> Reaktionszeit

Kunst und Kultur

Die in Deutschland ab 1850 aufkommende Industrialisierung und die damit verbundene Verstädterung veränderten die Lebensverhältnisse der Bevölkerung und führten zu einem sozialen Wandel, der auch in neuen Verhaltens- und Denkmustern seinen Ausdruck fand. Dieser Mentalitätswandel hatte Einfluss auf die Kunst und Kultur, die besonders durch das aufstrebende Bürgertum stark geprägt wurden. Die Ausstrahlungskraft der bürgerlichen Kultur reichte dabei weit über das Bürgertum hinaus: Sie wirkte auf die gesamte Gesellschaft, unter anderem auch auf die entstehende Arbeiterschaft. Das gesellschaftliche und politische Klima in Deutschland war während der Reaktionszeit durch Kontrolle, Bespitzelung und Misstrauen geprägt. Viele, die an den revolutionären Aufständen 1848/49 teilgenommen hatten, flohen aus Angst vor polizeilicher Verfolgung ins Ausland.

Auch zahlreiche Intellektuelle und Künstler gingen ins Exil. Hierzu zählten unter anderem der Komponist Richard Wagner und der Architekt Gottfried Semper (1803-1879). Im Exil in Frankreich, England und der Schweiz, aber auch in den Vereinigten Staaten konnten die deutschen Emigranten oppositionell tätig sein und literarisch weitgehend frei arbeiten.

In der Bildenden Kunst begann sich in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Realismus als Stilrichtung durchzusetzen. Er wandte sich gegen die historisierenden und idealisierenden Darstellungen des Klassizismus sowie der Romantik. Der Begriff "Realismus" als Stilphase wurde entscheidend vom französischen Maler Gustav Courbet (1819-1877) und seiner programmatischen Ausstellung "Le Réalisme" 1855 in Paris geprägt: Courbet verband die Forderung nach wirklichkeitsgetreuer Abbildung und sozialer Aussage mit einer Ablehnung des Idealismus. Maler des Realismus bildeten technische Entwicklungen der Zeit sowie den Alltag der Menschen ab, wobei immer öfter auch ein sozialkritischer Ton vermittelt wurde. Zwei der bedeutendsten Vertreter des Realismus waren der in Wien geborene Georg Ferdinand Waldmüller (1793-1865) und Adolph Menzel. Zahlreiche Landschafts- und Alltagsdarstellungen sowie eine Reihe von Historiengemälden zur "Geschichte Friedrich des Großen" zählen zu Menzels Werk. Daneben haben sich vor allem Hans Thoma (1839-1924) und Wilhelm Leibl (1844-1900) einen Namen als realistische Maler gemacht.

Die Historienmalerei war in der Bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Innerhalb dieses Genres verbanden die Maler oft historische Themen und politische Ereignisse mit einer patriotischen Botschaft. Dabei stand die Nationalgeschichte bei Malern wie Karl Theodor von Piloty (1826-1886), Franz Krüger (1797-1857) oder Wilhelm von Kaulbach (1804-1878) stark im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der erstarkenden deutschen Nationalbewegung ab Ende der 1850er Jahre waren - wie bei dem Gemälde "Rückführung des verwundeten Theodor Körner 1813" von Friedrich Wilhelm Martersteig (1814-1899) - Darstellungen aus den Freiheitskriegen gegen Napoleon und die damit verbundene Opferbereitschaft beliebte Motive der Historienmalerei.

In der deutschsprachigen Literatur gab es seit der Jahrhundertmitte eine Hinwendung zum Realismus. Anliegen dieser literarischen Stilrichtung war es, die Wirklichkeit möglichst realistisch darzustellen und dabei den gesellschaftlichen Alltag in den Mittelpunkt zu rücken. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 nahm die Zahl der realistischen Darstellungen stark zu. Hierbei wurden reale, häufig auch historische Stoffe literarisch verarbeitet und mit einer subjektiven Erzählperspektive verbunden. Romane und Novellen waren charakteristisch für diese Literaturepoche, in der das Drama deutlich hinter epischen und lyrischen Werken zurücktrat. Neben Gustav Freytag (1816-1895), dessen Erfolgsroman "Soll und Haben" (1855) zum Vorbild für die gesamte Epoche wurde, zählten vor allem Wilhelm Raabe (1831-1910), Gottfried Keller (1819-1890), Adalbert Stifter (1805-1868), Franz Grillparzer (1791-1872) sowie Theodor Storm (1817-1888) zu den bedeutenden deutschsprachigen Vertretern des Realismus.

Das musikalische Schaffen jener Zeit stand im Zeichen der Spätromantik, die etwa ab der Jahrhundertmitte einsetzte und verschiedene Strömungen beinhaltete. Ein starker Gefühlsausdruck sowie vergleichsweise hohe Stilfreiheit waren Kennzeichen der musikalischen Spätromantik. Als neue Gattung entstand die symphonische Dichtung, die besonders durch das Wirken von Franz Liszt Bedeutung erlangte. Auch das Musikdrama, das meist mit dem Schaffen Richard Wagners assoziiert wird, hat seinen Ursprung in dieser Zeit. Wagners Werke führten zu einer Revolutionierung der Oper, in der die festen Gattungstypen des 18. Jahrhunderts abgelöst und durch seine Musikdramen ersetzt wurden. "Lohengrin" (Uraufführung 1850) oder "Tristan und Isolde" (Uraufführung 1865) zählten zu den ersten Erfolgen. Neben Liszt und Wagner hatten auch junge Komponisten wie Anton Bruckner (1824-1896) oder Johannes Brahms prägenden Einfluss auf die Musik der Spätromantik.

Die Theater- und Opernbühnen dienten dem aufstrebenden Bürgertum als Orte der Unterhaltung und der Bildung. In den zunehmend städtisch subventionierten Theatern, die nach 1848 in großem Maße im Stil des Historismus neu gebaut oder umgestaltet wurden, fand ab der Jahrhundertmitte verstärkt eine Professionalisierung statt. Sie hatte eine Aufwertung der Theaterkultur zur Folge. Das Theater wurde zum Renommierobjekt des Bürgertums, das hier ein Mittel zur Distinktion von den unteren Volksschichten entdeckte. Auf den städtischen Theaterbühnen fand eine Rückwendung zur Vergangenheit statt. Klassische Schauspiele von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) oder Friedrich Schiller (1759-1805), die dem Bildungsanspruch des Bürgertums genügten, standen wieder auf dem Programm. Die trivialen Lustspiele des Vormärz wurden in die entstehenden Boulevard- und Volksbühnen verdrängt, die zur Unterhaltung der Massen dienten. Das von Gottfried Semper errichtete Königliche Hoftheater in Dresden galt bis zu seiner Zerstörung durch einen Brand 1869 als einer der schönsten Theaterbauten in Europa. Des weiteren zählten vor allem das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater in Berlin (heute: Deutsches Theater) oder das Nationaltheater München, in dem zahlreiche Werke Richard Wagners uraufgeführt wurden, zu den großen und bedeutenden Bühnen.

Nicht nur in den prachtvollen Theaterbauten, sondern in der gesamten Architektur lässt sich etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit des Historismus konstatieren. Dieser Baustil griff auf ältere Stile zurück. Hierbei wurden Stilelemente der Romanik, der Gotik, der Renaissance, des Barock sowie des Rokoko imitiert. Häufig kombinierte der Historismus mehrere Stilrichtungen miteinander, so auch in der Phase des romantischen Historismus von 1850 bis 1870.

Swantje Greve
14. September 2014

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