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Die Spanische Grippe

Seit dem Sommer 1917 trafen immer mehr Truppen der American Expeditionary Forces in Frankreich ein, um nach und nach die Entente im Ersten Weltkrieg zu unterstützen. Währenddessen gab es in den USA bereits Grippeerkrankungen in Kansas und Georgia. Im April 1918 breitete sich die Grippe an der Front in Belgien aus. Die spätere Annahme, Influenza sei ein Import der amerikanischen Truppen gewesen, war aber noch nicht präsent.

Der spanische König litt an einer rätselhaften Krankheit, die die „Times“ im Mai 1918 an die Pest gemahnte. Der „director general de sanidad“ Manuel Martin Salazar erklärte im Juni vor der Königlichen Akademie der Medizin, dass es nach seiner Kenntnis sonst in Europa keine ähnliche Erkrankung gebe wie die, die nun in Spanien grassiere. Die „Spanische Krankheit“ erblickte das Licht der Welt und wurde wenig später zur „Spanischen Grippe“. In Großbritannien wurde sie im Juli 1918 als Pandemie bezeichnet.

Das Verhältnis von Krieg und Grippe ist ungeklärt. Zeitgenössische Pathologen vermuteten im Verlauf der Pandemie einen Zusammenhang von Influenza und Giftgaseinsatz im Krieg. Belegt ist, dass die erste Welle der Pandemie gravierende Beeinträchtigungen der militärischen Operationen an der Westfront bedingte. Viele Soldaten fielen innerhalb kurzer Zeit aus, dies behinderte die Kriegführung aller Beteiligten.

Das Gerücht der Pest

Das Gerücht, die Pest könnte ausgebrochen sein, reflektierte die emotionale Belastung der katastrophischen Kriegsumstände im Frühjahr 1918. Als Ende Mai die ersten Meldungen über die rätselhafte Krankheit in der deutschen Presse verlautbart wurden, tauchte es wieder auf, wurde aber von berufener Seite dementiert. Wesentlich häufiger wurde verniedlicht. Man sprach von „La epidemia de moda“ in Spanien und von „Modekrankheit“ in Deutschland. Die Krankheitserscheinungen waren eher mild. Viele erkrankten an kurzen fiebrigen Infektionen, aber die damit assoziierte Mortalität war relativ gering. Der Schock der zweiten Welle im Herbst 1918 war umso markanter. Die zweite Welle der Pandemie nahm im August 1918 in Brest, Boston, Freetown und Dakar ihren Ausgang. Schiffspassagen vermittelten sie.

Alles ging ganz schnell

Die Krankheitserscheinungen waren schwer, die Spanische Grippe wurde nun zu dem, wofür sie heute steht: eine tödliche Seuche, die das große Sterben erschreckenderweise ohne großes Aufheben auf eine neue Stufe hub. Alles ging ganz schnell. Einen Großteil der bis zu 50 Millionen Menschen, die der Grippe erlagen, ereilte dieses Schicksal in einem Zeitraum von wenigen Wochen – in Mitteleuropa vorrangig im Oktober und November 1918. Allein auf dem indischen Subkontinent starben 10 bis 20 Millionen Menschen, in den USA circa 675.000, in Italien über 450.000, in Polen bis zu 300.000, im Deutschen Reich mehr als 300.000 Menschen. Die Meldepraxis war jedoch beschränkt, eine Grippe-Überwachung, wie wir sie heute kennen, war unbekannt. Selbst die Experten für Exzessmortalität (Übersterblichkeit) an Grippe und Lungenentzündung, die Sozialhygieniker, die unter den neuen politischen Verhältnissen an Einfluss gewannen, waren nicht in der Lage, eine tragfähige Datengrundlage zu schaffen. Heute ist bekannt, dass die Grippe sich geographisch unterschiedlich stark ausbreitete. Dabei schien es damals so, als ob die Krankheit alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen beträfe. Dass benachteiligte Gruppen wie am Rande der Gesellschaft lebende Migranten und Migrantinnen einem größeren Risiko unterlagen, bildete sich allgemein nicht ab. Was sich schnell abzeichnete, war, dass Menschenansammlungen, zumal unter hygienisch eher zweifelhaften Umständen (Rekrutenlager, Kriegsgefangenenlager, aber auch zum Beispiel Bergwerke), die Tendenz hatten, eine schnelle Ausbreitung zu begünstigen. Die Zensur in den kriegführenden Ländern mühte sich, dem massenhaften Sterben durch Grippe keine große Öffentlichkeit zu gewähren. Der Tod Prominenter setzte aber Akzente, so zum Beispiel der des Schriftstellers Guillaume Apollinaire (1880-1918) in Paris oder des Malers Egon Schiele in Wien, dessen schwangere Frau Edith (1893-1918) der Krankheit drei Tage zuvor erlegen war.

Nicht alle, die erkrankten, starben. Die Schwerkranken wiesen typischerweise eine Blaufärbung der Haut auf (Zyanose). Der Tod trat oft plötzlich, in kurzer Zeit auf, aber es konnte sich zeitlich auch so darstellen, wie man es von einer Lungenentzündung sonst kannte. Eine Paradoxie trat auf den Plan, mit der niemand etwas anfangen konnte: nicht die offenkundig Geschwächten, sondern diejenigen, die als „kräftig“ wahrgenommen wurden, starben überproportional häufig an Influenza. Die Graphen, die die Mortalität abbildeten, wiesen eine Spitze bei den etwa 25- bis 40-jährigen auf. Todesursache war trotz aller Vielgestaltigkeit der Krankheitserscheinungen fast durchgehend ein akutes Lungenversagen auf dem Boden einer bakteriellen Lungenentzündung. Außergewöhnlich waren Fälle von blutigem Lungenödem: die Menschen erstickten im eigenen Blut.

Seit 1892 galt das damals kleinste, im Lichtmikroskop nachweisbare Bakterium, der nach seinem Entdecker benannte „Pfeiffer-Bazillus“ (heute Haemophilus influenzae), als verursachend für die Grippe. Den Virus-Begriff gab es 1918 bereits. Man verstand darunter ein verursachendes Agens, etwas Krankmachendes, das viel kleiner sein musste als die bekannten Bakterien, weil es durch kleinporige Porzellanfilter filtriert werden konnte. Es entstand ein gelehrter Streit darum, ob der Pfeiffer-Bazillus verursachend war für Grippe oder ob es andere oder mehrere Bakterien sein mussten oder etwas Drittes, das man noch nicht entdeckt hatte: ein Virus. Im Deutschen Reich obsiegte schließlich die Orthodoxie. Der Robert-Koch-Schüler Richard Pfeiffer (1858-1945) setzte seine Lehrmeinung (sein Bakterium sei alleiniger Verursacher) als offizielle Lesart durch. Als das Grippe-Virus, wie es heute bekannt ist, schließlich 1933 entdeckt wurde, geschah dies in London.

Schutz- und Behandlungsmöglichkeiten

Wie konnte man sich schützen? Das Tragen von Gazemasken war im Deutschen Reich unüblich, wurde in den USA zum Teil verfügt und löste Streit aus, in Japan bürgerte es sich im Jahr 1918 so sehr ein, dass es dort bis auf den heutigen Tag praktiziert wird. Maßnahmen, die für alle zu verfügen waren, waren im konkreten Fall strittig. Spott und Wut grundierte Debatten. Die Ausführung eines Politikers auf der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 24. Oktober 1918, dass das „Bummeln in den Nachtlokalen“ unterlassen werden solle, rief den Zuruf hervor: „Gibt´s ja gar nicht mehr!“

International galt: wo konzertierte nichtpharmazeutische Interventionen durchgeführt wurden wie Schulschließungen, Verbote von Menschenansammlungen oder Isolation und Quarantäne, konnten sie einen Effekt haben, so zum Beispiel in St. Louis (Missouri) im Herbst 1918. Wo sie hintangestellt wurden, wie bei der Siegesparade über die Deutschen in Philadelphia (Pennsylvania) am 28. September 1918, schufen sie ein Superspreader-Event.

Nur wenige Länder – allen voran Australien –  führten eine landesweite Quarantäne ein. Die gesundheitsbezogene Kommunikation differierte. In Zürich empfahl die Direktion des kantonalen Gesundheitswesens im Herbst 1918 unter anderem, dass man „den Besuch der Wirtschaften auf das Notwendigste“ einschränken solle. In Turin lautete eine Empfehlung dahingehend, dass „übermäßige Diät“ verhindern werden solle. In Konstanz hingegen wartete das ausgehängte „Merkblatt“ mit dem Rat auf, beim Husten Hände oder Tücher vorzuhalten, dann sei die „Gefahr der Übertragung in der Hauptsache beseitigt.“ Das entsprach der Art von Krisenmanagement, die im Deutschen Reich vorherrschte: kleinreden, ignorieren und vor allem nichts tun. „Die Influenza geisterte durch die Wahrnehmung der Behörden, als wäre sie ein Phantom“, so die Historikerin Sarah Weber.

Ärzte, an die man sich wenden konnte, waren kaum verfügbar. Krankenhausbetten auch nicht. Im deutschsprachigen Raum machten Ratschläge die Runde, entweder Kalzium oder Rote Beete zu sich zu nehmen. An Alkohol oder Tabak zur Vorbeugung schieden sich – wie so oft – die Geister. Äußere und innere Desinfektion war gängig. Insgesamt war die medikamentöse Therapie polypragmatisch: man probierte aus Ratlosigkeit mehr oder minder alles aus, dessen man noch habhaft werden konnte. Nebenwirkungen traten auf oder nicht. Für Medikamentenversuche holte niemand eine Zustimmung ein.

Serum von Genesenen, sogenanntes Rekonvaleszentenserum, war eine Zeitlang in Deutschland und in Italien begehrt, aber nur in geringem Umfang verfügbar und seine Wirksamkeit wurde eher behauptet als bewiesen. Bakteriologische Impfstoffe, die zumeist verschiedene Bakterien enthielten, wurden in Deutschland vereinzelt, in den angelsächsischen Ländern systematisch angewandt. Sie könnten wirksam gewesen sein, da sie auf die Erreger der Pneumonien abzielten, die bei Grippe zum Tode führten. Im Einzelnen ist das aber schwer zu beurteilen. An der Letalität der Grippe dürften sie wenig geändert haben.

Eine dritte Welle der Spanischen Grippe gab es nicht in allen Ländern. Im Deutschen Reich ereignete sie sich Anfang 1920. Hier verschob sich der Fokus auf Fälle eines als Folgekrankheit angesehenen Phänomens, das zuvor schon unter dem Begriff Encephalitis lethargica firmierte und in dieser Zeit auch unter der Bezeichnung Encephalitis epidemica geführt wurde. Diejenigen, die die Akutphase der Epidemie mit Fieber und Unruhe als Symptomen überlebten, glitten im Laufe der Jahre oft ab in ein chronisches Parkinson-Krankheitsbild.

Wilfried Witte
24. März 2023

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