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Kriegsgefangenschaft

Zwischen 6,6 und 8 Millionen Soldaten gerieten während des Ersten Weltkrieges in Gefangenschaft. Bei etwa 60 Millionen Soldaten entsprach dies mehr als zehn Prozent aller Mobilisierten. In den Gefangenenlagern behielten die Soldaten ihren Status und Rang als Offiziere oder einfache Soldaten. Die Behandlung von Kriegsgefangenen regelte die "Haager Landkriegsordnung" von 1907: Gefangene sollten mit Menschlichkeit behandelt werden und in Bezug auf Nahrung und Unterkunft den eigenen Truppen gleichgestellt sein. Die Umsetzung völkerrechtlicher Bestimmungen erwies sich in den Gefangenenlagern häufig als schwierig. Mitunter wurde das Völkerrecht bewusst nicht eingehalten: Soldaten wurden vor allem ab 1916 zum Arbeitseinsatz in Industrie, Bergbau und Landwirtschaft gezwungen, um den durch Fronteinsatz entstandenen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Harte körperliche Arbeit bei unzureichender Ernährung führte bei vielen Gefangenen, die nicht auf Zusatzlieferungen aus der Heimat zurückgreifen konnten, zu teilweise hohen Todesraten.

Fast 2,5 Millionen Menschen aus 13 Staaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Bis 1915 entstanden allein in Deutschland über 100 Mannschaftslager. Auf Anordnung des Auswärtigen Amts wurde im Februar 1915 das sogenannte Halbmond-Lager in Zossen bei Wünsdorf eingerichtet. Dort wurden etwa 4.000 Kriegsgefangene überwiegend islamischen Glaubens aus den französischen und britischen Kolonien interniert. In dem Lager waren neben Nord- und Westafrikanern auch Afghanen und muslimische Inder untergebracht, die zumindest teilweise nach ihren religiösen und heimatlichen Bräuchen leben durften. Mittels gezielter Propaganda wollten die Deutschen die Gefangenen gegen ihre Kolonialherren indoktrinieren und zu einem "Heiligen Krieg" aufstacheln. Zweiwöchig erschien die Zeitung "El Dschihad" in arabischer, tatarischer und russischer Sprache in einer Auflage von zunächst 15.000 Exemplaren. In dem nach außen streng geheim gehaltenen Blatt wurden die Kolonialherren als rücksichtslose Ausbeuter und Aufstände gegen sie als eine heilige Pflicht dargestellt. Der propagandistische Erfolg der Zeitung war allerdings gering.

Die Ansammlung exotisch anmutender Menschen in ihren traditionellen, farbenfrohen Gewändern in Zossen weckte nicht zuletzt auch das Interesse von Künstlern. Im Sommer 1916 saßen dem renommierten Berliner Maler Hans Looschen (1859-1923) mehrere nordafrikanische Gefangene Modell.

Stacheldrahtumzäunte Massenlager für Gefangene nahmen im Kriegsverlauf zunehmend den Charakter von Kleinstädten an. Sie besaßen eigene Verwaltungen, Zeitungen, Werkstätten und medizinische Einrichtungen. Gefangene durften Post von ihren Familien erhalten. Briefe und Pakete konnten die schwierigen Lebensbedingungen aber kaum ausgleichen. Zum Lagerleben gehörten unzureichende Ernährung, Krankheiten, Langeweile und Depressionen. Ein mitunter lebendiges Kulturleben mit selbstorganisierten Unterhaltungsangeboten wie Theater- und Sportveranstaltungen sollte das triste Lagerdasein aufhellen.

Bis Ende 1918 kamen über 800.000 Deutsche in Kriegsgefangenschaft. Die letzten von ihnen kehrten nach Ratifizierung des Versailler Vertrags im Januar 1920 aus alliierten Lagern in die Heimat zurück. Mit dem Fall der deutschen Kolonie Tsingtau im November 1914 waren auch etwa 5.000 Staatsangehörige des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns in japanische Kriegsgefangenschaft geraten. Sie wurden nach Japan befördert und dort zunächst auf 15 Lager verteilt. Innerhalb des japanischen Heeresministeriums wurde ein "Informationsbüro für Kriegsgefangenenfragen" gebildet, das unter anderem für die Verbindungsarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz zuständig war, das ab August 1914 Hilfe für Kriegsgefangene leistete. Viele Familien in ganz Europa erfuhren erst durch das Rote Kreuz, dass Angehörige noch lebten. Es organisierte Briefkontakte und Hilfslieferungen, die für Gefangene zu einer lebensnotwendigen Stütze in jahrelanger Gefangenschaft wurden. Mit seiner Hilfstätigkeit setzte das Rote Kreuz Maßstäbe für die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts. 1917 erhielt es dafür den einzigen im Krieg vergebenen Friedensnobelpreis.

Arnulf Scriba
8. September 2014

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