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Ersatzprodukte

Not macht erfinderisch – und die durch Mangel und Entbehrung hervorgerufene Not während des Ersten Weltkrieges zwang zu besonders viel Einfallsreichtum. So gab es 1918 in Deutschland wohl kaum einen Zivilisten, der noch eine ungeflickte Baumwollhose besaß. Ein Kleidungsstück aus Baumwolle war in der zweiten Kriegshälfte auf legalem Weg praktisch nicht zu erwerben, nachdem der Rohstoff nicht mehr importiert werden konnte. Die Textilindustrie stellte daraufhin auf die Produktion von Kleidung aus Brennnesselfasern und vor allem Papiergarnen um, die als vergleichsweise reißfest galten. Aus ihnen wurden daher nicht nur Hosen und Oberbekleidung hergestellt, sondern auch Schuhsohlen. Die Kundschaft bevorzugte aber die unbequemeren Holzsohlen, da sie bei Regen und Schnee zumindest nicht aufweichten. Um die Bekleidung notdürftig zusammenhalten zu können, standen zwar Nähkurse hoch im Kurs, aber je länger der Krieg dauerte, desto mehr bot die Bevölkerung ein äußerlich zerlumptes Erscheinungsbild.

Die unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs verhängte britische Seeblockade verschärfte den Rohstoffmangel in Deutschland dramatisch. Vor allem um den Rohstoffbedarf der Rüstungsindustrie abzudecken, wurden im zivilen Bereich mit fortschreitender Kriegsdauer immer mehr Ersatzstoffe verwendet. Für Lebens- und Genussmittel, für Futtermittel, für Konsumgüter und selbst für Rohstoffe zur industriellen Weiterverarbeitung wurde nach geeigneten Ersatzprodukten geforscht. Sie spielten wegen des Rohstoffmangels in Deutschland eine immer zentralere Rolle, mehr als 10.000 von ihnen wurden während des Krieges entwickelt. Die erheblich schlechtere Qualität vieler Ersatzprodukte wirkte sich insgesamt äußerst negativ auf die Stimmung der Bevölkerungskreise aus, die sich nicht über den Schleichhandel und auf dem Schwarzmarkt mit qualitativ besseren Produkten versorgen konnten.

Mit Abstand wichtigster Ersatzstoff war der nach dem "Haber-Bosch-Verfahren" aus Luft gewonnene Stickstoff, der in großem Umfang industriell hergestellt wurde und den zuvor aus Chile eingeführten Salpeter ersetzte. Stickstoff war zur Produktion von Munition erforderlich und trug als künstlicher Dünger zur Sicherung der Lebensmittelproduktion bei. Ohne den zur Herstellung von Munition erforderlichen Stickstoff wäre das deutsche Heer spätestens Ende 1914 gänzlich ohne Feuerkraft gewesen.Andere synthetisch hergestellte Ersatzstoffe waren von deutlich schlechterer Qualität als die Originalstoffe oder mussten mit so großem Aufwand hergestellt werden, daß sie die ursprünglichen Produkte nie vollwertig ersetzen konnten. So war das aus Mangel an Rohkautschuk synthetisch hergestellte Gummi zwar ein brauchbarer Ersatz für Hartgummi, aber weichere Gummiarten konnten damit kaum ersetzt werden.

Um den Gummibedarf für das Heer zu decken, wurden sogar die Schläuche privater Fahrräder beschlagnahmt und durch Metallspiralen notdürftig ersetzt. Da auch Leder ausgesprochen knapp war, wurden lederne Triebriemen aus den Maschinen nicht rüstungsrelevanter Betriebe ausgebaut und durch störanfälligere Antriebsriemen aus einem Papier-Stoff-Gemisch ersetzt. Da Fette und Öle hauptsächlich für Lebensmittel benötigt wurden, kamen Ersatzseifen auf den Markt, die zum größten Teil aus Tonmineralen, Speckstein und Sand bestanden und deren Waschkraft überschaubar war.

Andere Rohstoffe wie Kupfer und Zinn wurden - je nach Verfügbarkeit und vorgesehenem Einsatzgebiet - durch wenig manganhaltiges Eisen, durch Stahlguß, Zink, Hartpapier oder Hartholz ersetzt; zur Produktion von Kriegsgeräten wie Flugzeugen oder Schiffen konnten diese Materialien allerdings nur bedingt genutzt werden. Nach dem Anlaufen der Aluminiumproduktion in Deutschland wurden Zink und Eisen dort, wo ihr Einsatz zu Problemen führte, ihrerseits durch Aluminium ersetzt. Um Zinn einzusparen, wurde verzinkt und verbleit, an die Stelle von Weißblech trat verbleites Eisenblech. Statt des gewohnten Nickelblechgeschirrs wurde Geschirr aus Eisenblech produziert, statt Calcium-Karbid dienten Petroleum und Spiritus zur Beleuchtung. Wegen fehlender Rohstoffe mußte auch bei der Produktion von Ersatzstoffen improvisiert werden: Schwefel wurde aus Gips gewonnen, Spiritus aus Abfall-Laugen der Zellstoffindustrie sowie aus Kohle und Kalk, Harzersatz wurde aus Steinkohle-Derivaten und Schmieröle wurden aus Schiefer und animalischen Stoffen gewonnen.

Im Leben der meisten Deutschen fiel dem Speiseplan die größte Bedeutung zu, und hier waren allerorts Streckung und Verdünnung an der Tagesordnung. Was vor August 1914 für städtische Haushalte meist zum Alltag gehörte, wurde nach Beginn des Krieges schnell rar und bald zu einem unerschwinglichen Luxus. Im letzten Kriegsjahr schließlich waren ein frisch gebackenes Laib Brot, eine Tasse Kaffee, ein Stück Fleisch oder Schokolade oft nicht mehr als die glückverheißende Erinnerung an eine glorifizierte Vorkriegszeit mit kalorienreichem Genuss. Kriegskochbücher gaben viele wertvolle Rezepthinweise, oft wurden diese aber auch als blanker Hohn empfunden, wenn die für die Zubereitung der Gerichte vorgeschlagenen Zutaten selbst mit Lebensmittelkarten nicht erhältlich waren: So sollte für den „Kriegskuchen“ 1916 eine Zitrone verwendet werden.

Um die Getreidevorräte zu strecken, mussten Bäcker bereits im ersten Kriegsjahr dem Brot ein bestimmtes Quantum Kartoffelmehl beimischen. Für diese sogenannten K-Brote betrug der Kartoffelzusatz vereinzelt bis zu 50 Prozent. Als wegen schlechter Ernten schließlich auch die Kartoffeln knapp wurden, streckten die Hersteller die Brote ab 1916 mit Mais-, Bohnen-, Erbsen- und selbst mit Holzmehl. Im gesamten Nahrungsmittelbereich behalf sich die Bevölkerung mit minderwertigen Ersatzprodukten. So diente als Brotaufstrich alles, was zur Herstellung von Marmelade irgendwie geeignet erschien. Rindertalg und Hammelfett sollten beim Kochen und Backen die Butter ersetzen. Tee wurde aus Besenheide, Brombeer-, Maulbeer- oder Erdbeerblättern hergestellt, Kaffeeersatz aus Bucheckern, Eicheln oder Kastanien. Verwendung fand, was die Natur hergab – und so erlebten auch manche als Nahrungsmittel weitgehend in Vergessenheit geratene Kräuter und Pflanzen eine vor 1914 kaum für möglich gehaltene Renaissance auf dem Speiseplan.

Arnulf Scriba
8. September 2014

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