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Das Hilfspflichtgesetz

Auf die immer deutlicher werdende Überlegenheit der Entente-Staaten an Soldaten und Kriegsmaterial reagierte die Ende August 1916 neu gebildete Oberste Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff mit dem Hindenburg-Programm zur Erhöhung der eigenen Rekrutierungszahlen und zur massiven Ausweitung der deutschen Rüstungsproduktion. Während es keinen prinzipiellen Widerstand gegen die von der OHL gewünschte Steigerung der Rüstungsgüter gab, stieß die geforderte Arbeitspflicht für alle Männer, vor allem aber der Wunsch nach einer Dienstverpflichtung für Frauen auf zum Teil heftigen Widerspruch.

Als sich die Verhandlungen über die von der OHL beabsichtigte Arbeitspflicht zwischen der Reichsregierung unter Theobald von Bethmann Hollweg mit den Reichstagsparteien und Gewerkschaften auf der einen sowie mit dem preußischen Kriegsministerium und der OHL auf der anderen Seite immer länger hinzogen, wies Kaiser Wilhelm II. - von Ludendorff dazu angespornt - in einer Kabinettsordre am 6. November auf den gravierenden Munitionsmangel und die dadurch bedingte Gefahr eines gegnerischen Durchbruchs in der Schlacht an der Somme hin und befahl, "dass sofort und unverzüglich das Arbeitergesetz vor den Reichstag gebracht" werde.

Am 5. Dezember 1916 trat schließlich das Gesetz zum "Vaterländischen Hilfsdienst" in Kraft, das eine allgemeine Arbeitspflicht für alle nicht kriegsdienstfähigen Männer zwischen dem vollendeten 16. und 60. Lebensjahr festschrieb. Um die Zustimmung der Reichstagsmehrheit zu erhalten und die Loyalität der Arbeiter zu sichern, hatte die Reichsregierung den Gewerkschaften deutliche Zugeständnisse gemacht. So wurde das Prinzip des Arbeitszwangs durch geheim gewählte Arbeiterausschüsse in allen Betrieben mit mehr als 50 Mitarbeitern und durch paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse erheblich abgemildert: Die weitgehenden Befugnisse der Ausschüsse reichten von der Einstufung der Betriebe als kriegswichtig über die Entscheidung, wer zum Hilfsdienst herangezogen werden sollte, bis zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen bei Lohnverhandlungen. Damit waren die Gewerkschaften erstmals staatlich anerkannte Partner der Unternehmer.

Mit dem wegen seines partnerschaftlichen Ansatzes zwischen Unternehmern und Arbeitern von den Militärs und Konservativen ebenso heftig wie vom Spartakusbund kritisierten Hilfsdienstgesetz konnten zwar alle arbeitsfähigen Männer zum Arbeitsdienst gezwungen werden, eine wesentliche Steigerung der Rüstungsproduktion wurde damit zunächst aber nicht erreicht. Nur wenige der 1,7 Millionen im Herbst 1916 vom Kriegsdienst freigestellten Facharbeiter konnten durch angelernte Arbeiter aus anderen Industriebetrieben oder durch Frauen und Jugendliche ersetzt werden. Als die übereilte Durchführung des Hindenburg-Programms im "Kohlrübenwinter" 1916/17 zudem völlig unerwartet einen erheblichen Kohlemangel auslöste und dadurch zu gravierenden Transportproblemen führte, sah sich die OHL gezwungen, für die dringend erforderliche Steigerung der Kohleförderung rund 40.000 Bergleute von der Front in die Heimat zu schicken. Trotz der Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskräfte durch das Hilfsdienstgesetz waren auch 1918 über eine Million Männer als "unabkömmlich" in der Wirtschaft tätig. Bedeutsamer als der unmittelbar eher geringe wirtschaftliche Nutzen des Hilfsdienstgesetzes war die mit diesem Gesetz erfolgte Anerkennung der wirtschafts- und sozialpolitischen Rolle der Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeitnehmer. Das im Hilfsdienstgesetz verankerte sozialwirtschaftliche Konzept eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Unternehmen und Gewerkschaften überdauerte den Ersten Weltkrieg und prägte auch in der Weimarer Republik das kollektive Arbeitsrecht.

Burkhard Asmuss
14. September 2014

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