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Urbanisierung im Deutschen Reich

Die Bevölkerungszahl in Deutschland stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an. Von 1871 bis 1910 wuchs sie von 41 auf 65 Millionen Menschen. Hatten bei der Gründung des Deutschen Reichs 1871 lediglich acht Städte mehr als 100.000 Einwohner, waren es 1910 bereits 48 Städte. Der Anteil der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung betrug zu diesem Zeitpunkt 21,3 Prozent. Mit der Reichseinigung unter Preußen als Führungsmacht war Berlin 1871 Reichshauptstadt geworden. Berlin war schon im politisch zersplitterten deutschen Kulturraum Mitte des 19. Jahrhunderts mit 412.000 Einwohnern vor Hamburg mit 175.000 Einwohnern die größte Stadt in Deutschland und ein Zentrum der Aufklärung und der sozialen Bewegung gewesen.

Seit den 1870er Jahren aber wandelte sich die Residenz- und Handelsstadt Berlin zum größten industriellen Ballungsraum im Reich, vergleichbar höchstens dem Ruhrgebiet. Doch während dort die Verstädterung dezentral verlief und in einem unvollkommenen Urbanisierungsprozess eine zersiedelte Industrielandschaft entstand, wuchs Berlin zur Metropole zusammen. Im Jahre 1907 waren von den rund zwei Millionen Berlinern nur 40,5 Prozent ortsgebürtig. Die Zuwanderer stammten zu 18 Prozent aus der Umgebung, 39,1 Prozent waren Fernwanderer, 2,4 Prozent kamen aus dem Ausland. Im Ruhrgebiet waren bei 43,3 Prozent Ortsansässigen von den Zuwanderern 31,7 Prozent Nahwanderer, 22 Prozent Fernwanderer, 3 Prozent Ausländer. Im Gegensatz zur Zuwanderung in das Ruhrgebiet, die hauptsächlich aus Arbeitern bestand, war der Zuzug nach Berlin vielschichtiger: Neben der größten Gruppe der Industriearbeiter drängten auch Angehörige der bürgerlichen Mittelschichten in die Hauptstadt, da sie sich hier bessere Berufschancen erhofften. Gesinde-Vermietungsbüros, wie sie der Maler Fritz Paulsen (1838-1898) in seinem Gemälde "Bei der Stellenvermittlung" darstellte, entstanden vielerorts.

Nicht immer hielt der Wohnungsbau in der Hauptstadt unter dem Druck der Zuwanderung Schritt mit dem Wohnungsbedarf. Verglichen mit den Städten des Ruhrgebiets war die Wohndichte in Berlin in der Regel mehr als doppelt so hoch, die Bebauung war höher und die Wohnungen waren im Durchschnitt kleiner und teurer. Durch den "Bebauungsplan für die Umgebungen Berlins" von 1862 waren die Voraussetzungen für ein geregeltes Wachstum Berlins über die historischen Grenzen hinaus geschaffen worden. Auf den tief zugeschnittenen Grundstücken bildete sich der Typus des Berliner Mietshauses heraus. Zwar zielte die Intention des für den Bebauungsplan verantwortlich zeichnenden Baumeisters James Hobrecht darauf, die Hofinnenräume großzügig zu gestalten und zu begrünen, doch erlaubte die dem Bauboom nicht gewachsene Bauordnung eine vordringlich am Renditeinteresse ausgerichtete, zum Teil menschenunwürdig dichte Bebauung. Die schnell in wenigen Monaten hochgezogenen Häuser mussten von den ersten Bewohnern gegen Mietnachlass erst "trockengewohnt" werden, was die Gefahr von Krankheiten wie Tuberkulose erhöhte. Beständiger Mietpreisdruck zwang zu Überbelegung, Untervermietung und dem sogenannten Schlafgängerwesen. In den überbelegten Wohnungen der Mietshäuser wurden zur finanziellen Entlastung oftmals nur Schlafstellen an wechselnde alleinstehende Arbeiter vermietet. Die dauerhaften "Schlafgänger" hatten nicht selten engen Kontakt zu den Hauptmietern und ihren Familien.

Um 1900 hatte sich um die historischen Stadtkerne Berlins und der Nachbarstädte ein dichter Gürtel aus Mietshäusern gebildet, der mit seinem sozialen Gefälle vom Vorder- zum Hinterhaus soziale Mischung garantierte und die schlimmsten Auswüchse der Segregation weitgehend verhinderte. Trotzdem gab es eine stärkere Konzentration proletarischer Wohnquartiere im Osten und Norden der Stadt und eine innere Wohlstandsgliederung bzw. -wanderung. Lag im 19. Jahrhundert die Fabrikantenvilla noch oft auf dem Fabrikgelände, entstanden in Berlin Villenviertel zuerst am Tiergarten, später vor allem in Grunewald, Dahlem und am Wannsee.

Neue Stadttechnologien entstanden in den Großstädten vor allem im Bereich der Elektrizitäts- und Nahverkehrssysteme, von der Verbindung der verschiedenen Kopfbahnhöfe vermittels einer Ringbahn über Omnibus und Straßenbahn bis zu S- und U-Bahn. Sie trugen verstärkt ab 1870 zur Verwirklichung einer modernen großstädtischen Infrastruktur bei und führten zu Zentralisation und Automatisierung der Ver- und Entsorgungsleistungen sowie zur Beschleunigung, Intensivierung und Koordination in den Metropolen. Doch der Urbanisierungsprozess im Kaiserreich erfasste auch die Menschen: Die Assimilation der verschiedenen Herkünfte, Dialekte, Mentalitäten und die Synchronisation der unterschiedlichen Arbeits- und Lebensrhythmen zwang Zuwanderer, sich dem Prozess einer "inneren Urbanisierung" zu unterwerfen. Sie führte zu einer eigenen Großstadtidentität mit spezifischem Jargon sowie zu - gegenüber dem Land - schnelleren Bewegungsabläufen und rascherem Reaktionsbewusstsein.

Klaus Strohmeyer
15. Juni 2022

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