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Das Reich

Noch während des Deutsch-Französischen Krieges wurde am 18. Januar 1871 der preußische König Wilhelm I. auf französischem Boden im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert. Der neugegründete deutsche Nationalstaat entstand als konstitutionell-monarchischer Bundesstaat unter Hegemonie Preußens. Er umfasste etwa 541.000 Quadratkilometer, Preußen war mit einem Anteil von rund 65 Prozent der Fläche und 62 Prozent der Bevölkerung der mit Abstand größte Einzelstaat des Reiches. Schon bei der Reichsgründung war Deutschland seinen Nachbarn Frankreich und Österreich-Ungarn an Bevölkerungszahl, Fläche, wirtschaftlicher Kraft und militärischer Stärke überlegen. Die Gesamtbevölkerung wuchs von knapp 41 Millionen (1871) über 50 Millionen (1890) auf rund 68 Millionen Menschen (1914). Damit stand Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges unter den souveränen Staaten hinsichtlich der Bevölkerungszahl weltweit an vierter Stelle. Fast den gesamten Bevölkerungszuwachs nahmen die Städte auf, in denen sich die entstehende Massengesellschaft formierte. In Deutschland gab es um 1870 nur acht Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, 40 Jahre später waren es bereits 48 Städte.

Kaiser, Reichskanzler und Reichstag

Gemäß der Verfassung lag die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches beim Kaiser. Der Kaisertitel war erblich und lag beim preußischen König, der zugleich Oberhaupt der evangelischen Kirche war und im Kriegsfall den Oberbefehl über die gesamte deutsche Land- und Seemacht ausübte. In seiner Funktion als Staatsoberhaupt hatte der Kaiser das Recht zur Einberufung, Eröffnung und Schließung des Reichstages. Der Kaiser ernannte und entließ den Reichskanzler, der im Regelfall auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten bekleidete und den Vorsitz im Bundesrat führte. Dem Reichskanzler waren die Staatssekretäre als Leiter der verschiedenen Reichsämter unterstellt. Der Reichskanzler war nur dem Kaiser verantwortlich, nicht dem Reichstag. Das Parlament mit seinen rund 400 Abgeordneten ging für drei, ab 1888 für fünf Jahre aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen durch alle männlichen Deutschen über 25 Jahre hervor. Der Einfluss des Reichstages beschränkte sich im Wesentlichen auf die Gesetzgebung und Verabschiedung des Budgets. Die politische Leitung des Reiches überließ der erste Deutsche Kaiser, Wilhelm I., weitgehend seinem Reichskanzler Otto von Bismarck. Als „Reichsgründer“ verfügte dieser über enormes Prestige. Doch die Reichseinigung unter preußischer Führung war nicht überall auf Zustimmung gestoßen, etwa bei vielen Liberalen und in der katholischen Bevölkerung Süddeutschlands, die Vorbehalte gegenüber Preußen hegte und einem einzelstaatlichen Partikularismus nachhing. Nicht weniger skeptisch eingestellt waren Angehörige von Minderheiten, die dem deutschen Nationalstaat nicht angehören wollten. Drei zahlenmäßig große Nationalitäten waren seit 1871 bestrebt, den deutschen Staatsverband zu verlassen: im Osten die Polen, im Norden die Dänen und im Westen die Franzosen Elsass-Lothringens.

Bundesstaaten

Die Reichsgründung von 1871 war nicht die während der Revolution von 1848/49 angestrebte Reichseinigung „von unten“, sondern ein Bündnis der 22 deutschen Monarchen und der drei Freien Städte „von oben“. Somit bestand das Kaiserreich aus 25 Bundesstaaten: vier Königreichen (Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg), sechs Großherzogtümern (Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen-Weimar-Eisenach), fünf Herzogtümern (Anhalt, Braunschweig, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen), sieben Fürstentümern (Waldeck, Lippe, Schaumburg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß Ältere Linie, Reuß Jüngere Linie) und drei Freien Städten (Hamburg, Bremen, Lübeck), die zusammen den Bundesrat bildeten. Das 1871 von Frankreich annektierte Elsass-Lothringen wurde als „Reichsland“ seit 1879 von einem Statthalter regiert und war ab 1911 auch im Bundesrat vertreten, in dem die Vertreter der Einzelstaaten zusammen kamen. Das politische Eigenleben der Bundesstaaten wurde durch den föderativen Charakter der Verfassung vom 16. April 1871 gesichert, die sich eng an die des Norddeutschen Bundes anlehnte. Die meisten Bundesstaaten waren konstitutionelle Monarchien; die drei Hansestädte waren Stadtrepubliken, und die beiden mecklenburgischen Großherzogtümer hatten sich ihre landständische Verfassung aus dem 16. Jahrhundert bewahrt. Das allgemein gleiche Wahlrecht wurde in acht Staaten praktiziert, in elf Staaten galt das Dreiklassenwahlrecht.

Nationale Symbole

Bis auf Sachsen, Bayern und Württemberg wurden alle Truppen der Bundesstaaten der preußischen Armee ein- bzw. angegliedert. Den Oberbefehl über die Armeen der drei Königreiche hatte im Frieden der jeweilige König. Die Armeen sämtlicher Bundesstaaten übernahmen nach der Reichseinigung 1871 die aus Preußen stammende Pickelhaube. Für das Ausland, aber auch für viele Intellektuelle in Deutschland wurde sie zu einem Symbol für das neue, als militaristisch bewertete Deutsche Reich. Dessen Farben waren „Schwarz-Weiß-Rot", die schon jene des Norddeutschen Bundes gewesen waren. Otto von Bismarck hatte 1870 die Kombination des Hanseatischen „Weiß-Rot" mit dem Preußischen „Schwarz-Weiß" auf das neu zu gründende Kaiserreich übertragen. Der jährlich wiederkehrende nationale Gedenktag des Deutschen Reiches am 2. September erinnerte ab 1873 als „Sedanstag" an den militärischen Sieg über Frankreich und die Gründung des Kaiserreiches. Die lokalen Festveranstaltungen waren mit Gottesdiensten, Umzügen, Festreden und allerlei Vergnüglichkeiten durch die örtlichen Behörden oder Kriegervereine weitgehend identisch. Höhepunkt der Feierlichkeiten in der Hauptstadt Berlin war die Truppenparade des Gardekorps, die vor Zehntausenden Zuschauern und vor den Augen der kaiserlichen Familie auf dem Tempelhofer Feld abgehalten wurde. Als Nationalhymne hielt das Kaiserreich bei offiziellen Anlässen an der preußischen Königshymne „Heil dir im Siegerkranz“ von Heinrich Harries (1762-1802) fest, die zur Melodie der britischen Hymne gesungen wurde.

Vereinheitlichung von Währung, Maßen und Gewichten

Der Zusammenschluss der deutschen Staaten ermöglichte die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten, von Zolltarifen und Verbrauchssteuern sowie des Münzwesens. In den Jahren nach der Reichseinigung verschwanden Taler und Gulden aus dem Zahlungsverkehr. Anstelle der verschiedenen Währungseinheiten trat eine einheitliche, auf dem Goldstandard basierende Währung: die Mark zu 100 Pfennig. 1876 erfolgte die Gründung der Reichsbank.

Das 1868 im Norddeutschen Bund eingeführte metrische System wurde auf das Reich übertragen. Ein Neuscheffel fasste 50 Liter. Der alte Scheffel hatte zwischen 36,59 Litern in Lübeck und 106,16 Litern in Gera geschwankt. Vor der Einführung des Gramms 1868 war das Pfund die Hauptmaßeinheit in Deutschland. Sein Gewicht und die Aufteilung in Loth und Quentchen hatte in den einzelnen Staaten aber ebenso stark variiert wie die Länge der Elle. Vor Vereinheitlichung der Längenmaße betrug die Elle zwischen 66,77 Zentimetern in Berlin und 83,80 in Bayern. Mit den ganzen Vereinheitlichungen war eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg gegeben. Kennzeichnend für das Reich war ein starker Bevölkerungswachstum: Mit seinen fast 68 Millionen Einwohnern war Deutschland auch am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Mitteleuropas.

Arnulf Scriba
15. Oktober 2015

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