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Die Zabern-Affäre

Die Beschimpfung der elsässischen Zivilbevölkerung durch einen deutschen Offizier führte 1913 zu einer innenpolitischen Krise im Kaiserreich. Der 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner (1893-1915) stellte am 28. Oktober 1913 in der Stadt Zabern (frz.: Saverne) vor seinen Rekruten eine Prämie für jeden niedergestochenen "Wackes", ein Schimpfwort für die elsässische Bevölkerung, in Aussicht. Regionale Zeitungen im seit 1871 annektierten Elsaß-Lothringen machten den Vorfall publik. Die Empörung der heimischen Bevölkerung über das mehrheitlich als Besatzungsmacht empfundene deutsche Militär verstärkte sich, als Forstner nicht strafversetzt wurde, weil dies mit der "Ehre des Militärs" nicht vereinbar sei.

Die Willkürakte des Militärs in Zabern setzten sich in den folgenden Wochen fort: Der örtliche Regimentskommandeur Oberst Adolf von Reuter (1857-1926) ließ am 28. November ohne Absprache mit der Zivilverwaltung eine friedlich protestierende Menschenmenge sowie viele zufällig anwesende Passanten willkürlich festnehmen. Über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt, bewaffnete Militärangehörige patrouillierten in den Straßen. Forstner selbst schlug am 2. Dezember angeblich aus Notwehr einen Schustergesellen, der ihn verhöhnt hatte, mit dem Säbel nieder. Kronprinz Wilhelm kommentierte die Vorfälle in einem Telegramm mit den Worten "Immer feste druff!". Als der Wortlaut dieses Telegramms an die Öffentlichkeit gelangte, wurden zahlreiche elsässische Postbeamte wegen angeblicher Indiskretion versetzt. Diese Vorfälle schürten die Proteste innerhalb der elsässischen und in Teilen der deutschen Bevölkerung.

Im Reichstag löste die Kritik am Vorgehen des Militärs heftige Debatten aus. Am 4. Dezember sprach der Reichstag mit den Stimmen des Zentrums, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Nationalliberalen und der Fortschrittlichen Volkspartei mit 293 gegen 54 Stimmen ein Misstrauensvotum gegen Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg aus, der die Vorfälle in Zabern heruntergespielt und dem Militär den Vorrang vor der Zivilverwaltung gegeben hatte. Da der Reichskanzler jedoch allein vom Vertrauen des Kaisers abhängig war und nur von diesem entlassen werden konnte, hatte das Misstrauensvotum keine politischen Konsequenzen. Die Proteste im Deutschen Reich gegen das Vorgehen des Militärs hielten bis Januar 1914 an, verebbten nach dem Prozess gegen Forstner jedoch allmählich.

In dem Prozess vom 5. bis zum 10. Januar 1914 wurde Forstner, der wegen Körperverletzung und unrechtmäßigem Waffengebrauch angeklagt war, in zweiter Instanz auf Grundlage einer preußischen Order von 1820 freigesprochen. Die Order gestand dem Militär ein Selbsthilferecht bei Störung der Ordnung zu, sollte die Zivilverwaltung nicht willens oder in der Lage sein, die Ordnung wiederherzustellen. Die Schuld für die Vorfälle in Zabern lag laut dem Gericht bei der Zivilverwaltung, die dort für Ordnung hätte sorgen müssen. Das Urteil rief einen neuen Konflikt über die Rechtslage im Deutschen Reich hervor. Im Reichstag und in der Öffentlichkeit wurde heftig über das Verhältnis von ziviler und militärischer Gewalt gestritten.

Nina Reusch / Arnulf Scriba
12. Oktober 2016

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