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Die Daily-Telegraph-Affäre

Am 28. Oktober 1908 veröffentlichte das Londoner Massenblatt "The Daily Telegraph" ein Gespräch mit dem deutschen Kaiser, das in Großbritannien als anmaßend und in Frankreich und Rußland als diplomatische Taktlosigkeit empfunden wurde. In Deutschland löste das Interview eine innenpolitische Krise aus. Wilhelm II. betonte in dem Gespräch sein andauerndes Bemühen um ein gutes deutsch-britisches Verhältnis. 

Der britische Argwohn gegenüber dem Reich sei unangebracht, denn während des Burenkriegs habe er als deutscher Kaiser die Bildung eines anti-britischen Kontinentalbundes zwischen Rußland, Frankreich und Deutschland verhindert. Er habe sogar der englischen Königin Victoria, seiner Großmutter, einen Feldzugsplan geschickt, der dem tatsächlichen Vorgehen gegen die Buren entsprochen habe. Auch sei die deutsche Flotten- und Kolonialpolitik nicht gegen England gerichtet, sondern die deutsche Flotte böte die Möglichkeit zu einem gemeinsamen Vorgehen in Übersee.

Noch vor Veröffentlichung des Interviews hatte Wilhelm II. den Text an Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow zur vertraulichen Prüfung weitergeleitet. Bülow jedoch gab den Text ungelesen einem Referenten zur Bearbeitung und sandte ihn anschließend dem Kaiser zurück. Nach der Veröffentlichung des Interviews reichte Bülow als eigentlich Verantwortlicher für den Eklat sein Rücktrittsgesuch ein, das Wilhelm II. jedoch ablehnte. Als in der Reichstagsdebatte vom 10./11. November alle Parteien den Kaiser kritisierten, fühlte Wilhelm II. sich zu Unrecht angegriffen und dachte an seine Abdankung. Bülow selbst deckte den Kaiser nur halbherzig. Er forderte von Wilhelm II. eine Änderung seines Verhaltens, da er sonst seine Geschäfte als Reichskanzler nicht fortführen könne. Mit der Isolierung der Position des Kaisers im Reichstag erhielt das Parlament ein spürbar stärkeres Gewicht. Als Bülow jedoch wenig später im Zuge der Reichsfinanzreform seinen eigenen Rückhalt im Reichstag verlor, stellte der Kaiser sich auf die Seite des Reichstags.

Jelena Peter
1. Februar 2000

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