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Deutsch-Freisinnige Partei 1884-1893

Im Januar 1884 trafen sich Vertreter der Deutschen Fortschrittspartei und der Liberalen Vereinigung zu vertraulichen Gesprächen über ein gemeinsames Programm und die Vereinigung der beiden linksliberalen Parteien zu einer starken Reichstagsfraktion. Nach kurzen Verhandlungen fusionierten sie am 5. März 1884 zur Deutsch-Freisinnigen Partei. Am folgenden Tag entsendete sie 98 Abgeordnete zur Reichstagssitzung, unter ihnen Ludwig Bamberger (1823-1899), Eduard Lasker (1829-1884), Franz August Schenk von Stauffenberg (1834-1901), Eugen Richter, Karl Schrader (1834-1913) und der Mediziner Rudolf Virchow. Damit waren die Linksliberalen zweitstärkste Fraktion nach dem Zentrum. Allerdings konnten sie die starke Position nicht behaupten: Nach der Reichstagswahl am 28. Oktober 1884 verlor die Deutsch-Freisinnige Partei ein Drittel ihrer Mandate.

Programmatisch forderten die Linksliberalen die uneingeschränkte Umsetzung der Verfassungsgarantien, die Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie sowie die Sicherung errungener Rechte wie Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Des weiteren strebten sie die Trennung von Staat und Kirche mit der rechtlichen Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften an. Die wirtschaftsliberale Deutsch-Freisinnige Partei vertrat den gewerblichen Mittelstand, mittelgroße Unternehmen und die Interessen der Exportindustrie sowie der Banken. Daher lehnte sie die Schutzzollpolitik von Otto von Bismarck vehement ab und sprach sich wiederholt für weitreichende Steuerentlastungen aus.

Die Deutsch-Freisinnige Partei stützte sich organisatorisch hauptsächlich auf die über 160 Wahlvereine der Fortschrittspartei in Berlin, aber auch in Teilen Sachsens, Südhessens und im Ruhrgebiet. Auch auf einige wenige lokale Organisationen der Liberalen Vereinigung konnte die Partei zurückgreifen, eine Zusammenführung der einzelnen Wahlvereine scheiterte allerdings. In der neunjährigen Parteigeschichte fand kein gemeinsamer Parteitag statt. Dieses strukturelle Nebeneinander spiegelte sich ferner in der Parteipresse wider, denn beide politische Gruppierungen veröffentlichten weiterhin ihre Zeitschriften: Das Blatt der ehemaligen Fortschrittspartei, die "Parlamentarische Korrespondenz", erschien ebenso wie die "Liberale Korrespondenz" der alten Liberalen Vereinigung. Ein die Gesamtpartei repräsentierendes Organ gab es nicht, auch wenn die "Parlamentarische Korrespondenz" als solches offiziell fungierte. Die organisatorische Spaltung hatte ihre Ursachen vorwiegend in den bereits seit Fusion der beiden linksliberalen Parteien existierenden Gegensätzen. Besonders in Fragen der alle fünf Jahre vom Reichstag zu beschließenden Heeresgröße und Militäretat sowie bezüglich der Kolonialpolitik kamen immer wieder grundlegende innerparteiliche Differenzen zum Vorschein. Während der rechte Parteiflügel unter Karl Schrader die Bismarckschen Militärvorlagen befürwortete, lehnte der linke Flügel unter Eugen Richter diese scharf ab.

Die Uneinigkeit innerhalb der Deutsch-Freisinnige Partei trat nach der Entlassung Bismarcks 1890 zunächst in den Hintergrund. Auch die überraschende Verdopplung ihrer Mandate nach der Reichstagswahl am 20. Februar 1890 stärkte die Deutsch-Freisinnigen. Sie unterstützen die wirtschaftsliberale Politik des neuen Reichskanzlers Leo von Caprivi. Dennoch blieben die alten innerparteilichen Konflikte unterschwellig bestehen. Bei der Reichstagsabstimmung über die Militärvorlage am 6. Mai 1893 kam es schließlich zum Eklat: Neben dem Direktor der Deutschen Bank, Georg von Siemens, stimmten fünf weitere Abgeordnete der Deutsch-Freisinnigen Partei für die Vorlage, während der linke Flügel diese ablehnte. Noch am gleichen Tag beantragte Eugen Richter den Ausschluss der sechs Abtrünnigen, was zur Spaltung der Partei führte. Noch vor der Reichstagswahl am 15. Juni 1893 bildeten die Unterstützer der Heeresvorlage und ehemaligen Mitglieder der Liberalen Vereinigung die Freisinnige Vereinigung, während die Anhänger Eugen Richters die Freisinnige Volkspartei gründeten.

Johannes Leicht / Arnulf Scriba

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