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Kolonialpolitik

Kolonialen Erwerbungen stand der Reichskanzler Otto von Bismarck skeptisch gegenüber. Dennoch wurden unter seiner Kanzlerschaft die meisten Kolonien des Deutschen Reichs erworben. Nach der Entlassung Bismarcks 1890 betrieb Kaiser Wilhelm II. eine imperialistische Kolonialpolitik und trat damit in scharfe Konkurrenz zu den anderen Großmächten. Der Besitz von Kolonien sollte jetzt der deutschen "Weltgeltung" dienen. Der wirtschaftliche Nutzen der deutschen Kolonien war äußerst gering, während die politischen Konsequenzen der deutschen Kolonialpolitik sich als extrem negativ erwiesen. Als es 1883 zu schweren kolonialpolitischen Spannungen zwischen den europäischen Großmächten England, Frankreich und Russland gekommen war, ließ Bismarck sich kurzfristig auf eine aktivere Kolonialpolitik ein.

Die vom Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz (1834-1886) unter teils fragwürdigen Umständen erworbenen südwestafrikanischen Besitzungen stellte das Reich im April 1884 unter seinen "Schutz". Im Juli wurden Togo und Kamerun deutscher Herrschaft unterstellt, im Februar 1885 folgte das von Carl Peters für einen minimalen Preis erworbene Gebiet in Ostafrika. Mit der Übernahme von Nord-Neuguinea (Kaiser-Wilhelm-Land) und der davor gelegenen Inselgruppe (Bismarck-Archipel) war die erste Phase deutscher Kolonialpolitik im Mai 1885 abgeschlossen. Während Bismarck die deutschen Kolonien lediglich als Handelsstützpunkte betrachtete, sah der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein in ihnen vor allem eine Erweiterung des deutschen Herrschaftsbereichs und die Voraussetzung für die angestrebte Weltmachtpolitik.

Nach der Entlassung Bismarcks verstärkten der 1891 gegründete Alldeutsche Verband und der 1898 gegründete Deutsche Flottenverein die imperialistische Publizistik mit ihrer Forderung nach einer expansiveren Kolonialpolitik. Ökonomische Aspekte waren für die deutsche Kolonialpolitik von weit geringerer Bedeutung als die politischen Ziele. Die deutschen Unternehmen hatten viel engere Handelsbeziehungen zu den englischen Kolonien als zu den deutschen. Auch der Versuch, mittlere und untere Einkommensschichten zu einem finanziellen Engagement in den deutschen Kolonien zu bewegen, scheiterte. Die deutschen Kolonien waren als "Siedlungsgebiet" unbedeutend und blieben im eigentlichen Sinne des Wortes immer "Kronkolonien". So wanderte zwischen 1887 und 1906 eine Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus, in den deutschen Kolonien hingegen ließen sich bis zum Ersten Weltkrieg nur 23.000 Auswanderer nieder.

Gegen die weißen Kolonisten und deren Herrschaft in Deutsch-Südwestafrika erhoben sich 1904 die Herero, denen sich wenig später die Nama anschlossen. Sie griffen Ortschaften an und ermordeten über 120 Menschen. Die auf 16.000 Mann verstärkte "Schutztruppe" nahm dafür grausam Rache. Bis Ende 1907 zog sich der Kampf gegen versprengte Gruppen der Aufständischen schließlich hin. Zwischen geschätztem einen und zwei Drittel der Herero-Bevölkerung starben, von den 20.000 Nama kam die Hälfte ums Leben.

Als im Reichstag für die weitere Finanzierung des Kampfes zusätzliche Mittel gefordert wurden, kritisierte insbesondere das Zentrum die deutsche Kolonialpolitik und forderte personelle Veränderungen. Als diese vom Staatssekretär des Reichskolonialamtes, Bernhard Dernburg (1865-1937), abgelehnt wurden, stimmten Zentrum und SPD gegen den Nachtragsetat. Da Reichskanzler Bernhard von Bülow die Ablehnung als Eingriff in die kaiserliche Kommandogewalt verstand und den Status des Deutschen Reichs als Kolonialmacht gefährdet sah, löste er den Reichstag auf und setzte unter der Parole "Gegen Zentrum und Sozialdemokratie" Neuwahlen an und gab ihnen den Charakter einer Volksabstimmung über die deutsche Kolonialpolitik. Das Zentrum erreichte leichte Gewinne, die Sozialdemokratie erlitt aufgrund der ungerechten Wahlkreiseinteilung schwere Verluste.

War auch der ökonomische Nutzen der deutschen Kolonien gering, so waren die Folgen der deutschen Beteiligung am imperialistischen Wettrennen nach Kolonialbesitz von erheblicher Relevanz. Wie Preußen im Krieg gegen Österreich zur deutschen Großmacht und Deutschland im Krieg gegen Frankreich zur europäischen Großmacht geworden waren, sollte nun das Kaiserreich in der kolonialpolitischen Auseinandersetzung mit England "Weltgeltung" erreichen. Unter Wilhelm II. wurden die Kolonien auch als militärische Stützpunkte betrachtet, zu deren Verteidigung eine massive Aufrüstung der deutschen Flotte erforderlich war. Beim "Streben nach Weltgeltung" brachte Wilhelm II. mit seiner Flottenpolitik Deutschland in einen prinzipiellen Interessengegensatz zu Großbritannien und förderte so den Abschluss der "Entente cordiale" von 1904 zwischen Großbritannien und Frankreich. Das Spiel mit dem Feuer erreichte einen Höhepunkt, als die unüberlegte, mit Theaterdonner inszenierte "Kanonenboot-Politik" Wilhelms II. das Deutsche Reich während der Marokko-Krise 1911 an den Rande eines Krieges gegen Frankreich brachte.

Burkhard Asmuss
8. Juni 2011

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