> Kaiserreich > Antisemitismus

Antisemitische Parteien

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 erlebte die Wirtschaft einen rasanten, aber nicht beständigen Aufschwung. Dem Börsenkrach im Oktober 1873 folgte eine anhaltende Wirtschaftskrise, die zahlreiche Unternehmer, Geschäftsinhaber und Händler zum Bankrott führte. Aufgrund der verschlechterten wirtschaftlichen Situation Ende der 1870er Jahre vermehrten sich Erklärungsversuche, den Juden die Schuld an dieser Pleitewelle zu geben. Antisemiten schlossen sich zu ersten politischen Gruppierungen und Parteien zusammen und fanden damit überwiegend im städtischen Kleinbürgertum, bei klein- und mittelständigen Bauern, Handwerkern, Kleinhändlern und Angehörigen der mittleren Bildungsschicht Zustimmung. In Berlin gründete Hofprediger Adolf Stoecker im Januar 1878 vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der sozialen Frage die Christlich-Soziale Arbeiterpartei. Seine Beweggründe lagen zunächst in der Entfremdung der Berliner Arbeiter von den Sozialdemokraten und ihre Integration in das christlich-nationale Lager. Dazu bediente sich Stoecker auch antisemitischer Begründungen und sozialkonservativer Forderungen. Seine Agitation blieb allerdings unter den Arbeitern weitgehend erfolglos, doch in Teilen des städtischen Mittelstandes erreichte er eine große Popularität.

 

In Abgrenzung zu Stoeckers christlich motiviertem Antisemitismus gründete der Publizist Wilhelm Marr im Oktober 1879 die "Antisemitenliga", die schnell zahlreiche, mehrheitlich nicht kirchlich gebundene Mitglieder gewinnen konnte. In ihrer vorwiegend publizistischen Tätigkeit postulierte die Liga den rassistisch begründeten Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung und forderte die Vertreibung aller Juden aus Deutschland. Die "Antisemitenliga" unterstütze die "Antisemiten-Petition" gegen die soziale und rechtliche Gleichstellung der Juden. Deren Initiator Max Liebermann von Sonnenberg, ein hochdekorierter Veteran des Deutsch-Französischen Kriegs, gründete 1881 zusammen mit dem Publizisten Bernhard Förster (1843-1889) den Deutschen Volksverein. Deren überwiegend national-konservativen antisemitischen Mitglieder agierten vor allem gegen die "verjudete" Deutsche Fortschrittspartei.

Die frühe antisemitische Bewegung in Berlin war von Beginn an zerstritten hinsichtlich ihrer ideologischen und pragmatischen Ausrichtung. Während auf der einen Seite sozialpolitische Forderungen mit antisemitischen Argumenten untermauert wurden, verlangten die radikalen Antisemiten weitreichende gesetzliche Beschränkungen des jüdischen Lebens in Deutschland. Mehrere Initiativen eines Zusammenschlusses der verschiedenen antisemitischen Gruppierungen, wie die von Adolf Stoecker initiierte konservative "Berliner Bewegung" oder der unter der Führung von Ernst Henrici (1854-1915) ins Leben gerufene Soziale Reichsverein, scheiterten. Gerade wegen dieser Zerrissenheit beachteten die etablierten Parteien die sich politisch formierende antisemitische Bewegung nur beiläufig.

Neben Berlin war Sachsen ein weiteres Zentrum antisemitischer Parteien. Der Kleinunternehmer und Lokalpolitiker Alexander Pinkert gründete 1879 in Dresden den antisemitischen Deutschen Reformverein. Im Gegensatz zu den anderen Gruppierungen überwand der Reformverein, der sich 1881 in Deutsche Reformpartei umbenannte, seinen lokalen Charakter und etablierte selbständige regionale Ortsgruppen in Hessen und Westfalen. 1882 wurde ein erster internationaler antijüdischer Kongress nach Dresden einberufen, der die Beziehungen verschiedener nationaler und internationaler Gruppierungen neu koordinieren sollte. Doch auch ein zweiter Kongress, der ein Jahr später in Chemnitz stattfand, konnte die starken Gegensätze zwischen radikalen und gemäßigten Antisemiten nicht beseitigen.

Mit der wirtschaftlichen Erholung ab 1882 begann der politische Antisemitismus zeitweise abzuflauen. Stöckers Partei schloss sich bereits 1881 der Deutschkonservativen Partei an. Weitere Versuche einer Einigung der antisemitischen Splitterparteien blieben erfolglos. Der Schwerpunkt der antisemitischen Agitation verlagerte sich stattdessen in kleinere Städte und ländliche Gebiete: Unter der Führung von Theodor Fritsch etablierte sich die 1884 gegründete "Deutsche Antisemitische Vereinigung" in den sächsischen Kleinstädten. Der Marburger Bibliothekar und antisemitische Agitator Otto Boeckel fand auf dem hessischen Land starken Zuspruch. Bei der Reichstagswahl 1887 wurde er im Wahlkreis Kassel als erster bekennender Antisemit in den Reichstag gewählt.

Auf dem Antisemitentag in Bochum am 10. und 11. Juni 1889 wurde unter Führung Stoeckers und Boeckels erneut die Einigung der verschiedenen antisemitischen Gruppierungen versucht. Die Meinungen gingen aber besonders hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung der neuen Partei auseinander: Während Boeckel und seine Anhänger den eindeutig antisemitischen Charakter der Vereinigung bereits im Namen zum Ausdruck bringen wollten und sich für eine Unabhängigkeit von der Deutschkonservativen Partei aussprachen, wollte die Gruppe um Max Liebermann von Sonnenberg die neue Partei als deutschsozial bezeichnen. Den Kompromissvorschlag "Antisemitische Deutschsoziale Partei" lehnte Boeckel ab und verließ mit seinen hessischen und Dresdner Anhängern die Tagung, eine Einigung kam nicht zustande.

Die politische Gruppe um Max Liebermann von Sonnenberg und Theodor Fritsch schloss sich unmittelbar nach dem misslungenen Antisemitentag zur Deutschsozialen Partei zusammen. Das Parteiprogramm war vornehmlich auf die Mittelschichten orientiert, unter anderem forderte es die Aufhebung der Emanzipation jüdischer Bürger. Bei der Reichstagswahl 1890 erreichte von den Deutschsozialen allerdings nur Liebermann von Sonnenberg ein Abgeordnetenmandat. Demgegenüber wurden in Hessen neben Otto Boeckel der Kaufmann Wilhelm Pickenbach (1850-1903) und Ludwig Werner (1855- ) in den Reichstag gewählt. Zusammen mit dem Dresdner Antisemiten Oswald Zimmermann (1859-1910) bildeten sie im Juni 1890 eine gemeinsame Fraktion der Antisemiten. Die Weigerung Liebermann von Sonnenberg, dieser beizutreten, nahm die Fraktion zum Anlass, im Juli 1890 in Erfurt die politisch radikalere Antisemitische Partei zu gründen, die später zunächst in Antisemitische Volkspartei und 1892 in Deutsche Reformpartei umgenannt wurde.

Während bei der Reichstagswahl 1893 die Deutsche Reformpartei vor allem in Sachsen und Hessen deutlich zulegen konnte, gewannen die Deutschsozialen in einem gemeinsamen Wahlbündnis mit der Christlichsozialen Partei, der Deutschkonservativen Partei und dem Bund der Landwirte (BdL) nur vier Reichstagsmandate. Aber auch der radikal-antisemitische Agitator Hermann Ahlwardt (1846-1914), der sich keiner der beiden antisemitischen Richtungen anschloss, wurde 1893 in Frankfurt/Oder in den Reichstag gewählt. Insgesamt erreichten die Antisemiten mit 16 Mandaten ihr bestes Wahlergebnis.

Erst nachdem Otto Boeckel seine führende Stellung in der Deutschen Reformpartei eingebüßt hatte und sich Theodor Fritsch wegen antikonservativer Ansichten aus der Deutschsozialen Partei zurückgezogen hatte, kam es zur Vereinigung der beiden Parteien am 7. Oktober 1894 in Eisenach zur Deutschsozialen Reformpartei. Die politische Bedeutung der antisemitischen Parteien nahm danach wegen programmatischer Differenzen, zahlreichen Abspaltungen und grundlegenden Zerwürfnissen rapide ab. Mit dem Tod der beiden bedeutenden Parteiführer Oswald Zimmermann und Max Liebermann von Sonnenberg versank der politische Antisemitismus bis in den Ersten Weltkrieg hinein in die Bedeutungslosigkeit.

Johannes Leicht
23. Oktober 2015

lo