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Der Berliner Kongress 1878

Der Balkan war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine kaum kalkulierbare Gefahrenquelle für den europäischen Frieden. Ein im Juni 1875 in Bosnien begonnener Aufstand gegen die türkische Herrschaft erfasste im Mai 1876 Bulgarien und bald darauf die gesamte Balkanhalbinsel. In den Konflikt gerieten auch die europäischen Mächte. Russland verstand sich als Schutzmacht der orthodoxen Christen im Machtgebiet des Osmanischen Reichs, zugleich drängte auch die nationalistische, panslawistische Bewegung das Zarenreich zu einem militärischen Vorgehen, um die türkische Herrschaft zurückzudrängen. Am 14. April 1877 erklärte Russland der Türkei den Krieg, Ende Januar 1878 standen russische Truppen vor Konstantinopel.

Anfang März 1878 musste das Osmanische Reich in San Stefano einen harten Frieden unterschreiben: Serbien, Montenegro und Rumänien wurden durch türkische Gebietsabtretungen vergrößert und unabhängig; Bulgarien, um Ostrumelien und Mazedonien zu einem großbulgarischen Fürstentum erweitert, erhielt Zugang zum Ägäischen Meer und geriet unter russischen Einfluss. Damit eröffnete sich für Russland der Zugang zum Mittelmeer.

Großbritannien, das um das Mächtegleichgewicht in Europa fürchtete, und Österreich-Ungarn, das den wachsenden russischen Einfluss an seiner südlichen Flanke mit Sorge betrachtete, protestierten scharf gegen die Machtausweitung Russlands. Als britische Flottenverbände ins Marmarameer einliefen und ein Zusammenstoß mit Russland unmittelbar bevorzustehen schien, schlug der österreichisch-ungarische Außenminister Gyula Andrássy (1823-1890) einen Kongress zur Regelung aller strittigen Fragen auf dem Balkan vor. Da das deutsche Kaiserreich auf dem Balkan keine Interessen hatte und Reichskanzler Otto von Bismarck sich im Februar 1878 vor dem Reichstag bereit erklärt hatte, als "ehrlicher Makler" einen Friedenskongress zu leiten, einigten sich die Großmächte auf Berlin als Tagungsort.

Am 13. Juni 1878 eröffnete Bismarck den Berliner Kongress. Jeweils zwei führende Politiker der europäischen Großmächte und aus der Türkei waren nach Berlin gereist: Andrássy und Heinrich von Haymerle (1828-1881) für Österreich-Ungarn, Benjamin Disraeli (1804-1881) und Robert Arthur Salisbury für Großbritannien, Alexander Gortschakow (1798-1883) und Peter Schuwalow (1830-1903) für Russland, William Henry Waddington (1826-1894) und Paul Desprez für Frankreich, Alexander Carathéodory und Mehmed Ali für die Türkei. Die in Berlin akkreditierten Botschafter dieser Länder nahmen als weitere Bevollmächtigte an den Verhandlungen teil. Italien war mit nur zwei Bevollmächtigten vertreten: Luigi Corti (1823-1888) und Eduardo de Launay. Zur deutschen Delegation zählten neben Bismarck der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard Ernst von Bülow (1815-1879), und Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst.

Der Kongress rückte die Reichshauptstadt in das Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit. Bis auf Disraeli sprachen die Kongressteilnehmer in den Hauptverhandlungen französisch. Diese Verhandlungen fanden im Reichskanzlerpalais statt, dem vormals Radziwillschen Palais. Zu kleineren Gesprächsrunden traf man sich auch in den Salons der Reichskanzlei, im Auswärtigen Amt, in den Botschaften der beteiligten Mächte und in namhaften Berliner Hotels. Ergebnis der Verhandlungen war der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Berliner Vertrag, der den Frieden von San Stefano zu ungunsten Russlands revidierte. "Groß-Bulgarien" wurde aufgeteilt in das zwar autonome, formal aber unter osmanischer Herrschaft stehende Fürstentum Bulgarien, die Provinz Rumelien und das osmanische Mazedonien. Die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro wurde anerkannt. Österreich-Ungarn erhielt gegen den Protest der Türkei das Recht, Bosnien und die Herzegowina zu besetzen, um den russischen Machtzuwachs auf dem Balkan auszugleichen.

Weil Bismarck auf dem Kongress darauf verzichtete, für Deutschland Vorteile zu erzielen, erwarb er sich insbesondere die Hochschätzung der britischen Delegation. Bismarck und der in England populäre Premier Disraeli hatten sich zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Die anfängliche Ablehnung schlug jedoch bald in Sympathie um: Die "Illustrated London News" sprachen von "Dizzy" (Disraeli) und "Bizzy" (Bismarck). Der deutsche Reichskanzler erwarb sich in London nachhaltig den Ruf eines vertrauenswürdigen Außenpolitikers. Anders urteilten der russische Staatskanzler und Außenminister Gortschakow und die russische Öffentlichkeit: Sie machten Bismarck für die Preisgabe ihres "Siegfriedens" von San Stefano verantwortlich. Schuwalow, russischer Botschafter in London und zweiter Bevollmächtigter Russlands in Berlin, dem Bismarck auf dem Gemälde von Anton von Werner über die Schlusssitzung freundschaftlich die Hand drückt, urteilte darüber weniger drastisch. Über die guten Beziehungen Bismarcks zu Schuwalow war Gortschakow, der die Ergebnisse des Berliner Kongresses später als seine größte diplomatische Niederlage bewertete, verärgert. Er torpedierte die weitere Karriere Schuwalows. Die deutsch-russischen Beziehungen verschlechterten sich nach Juli 1878 merklich.

Burkhard Asmuss
8. Juni 2011

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