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    Plakat der Jüdischen Winterhilfe, um 1936

> NS-Regime > Ausgrenzung und Verfolgung

Jüdische Selbsthilfe

Als Reaktion auf die gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten formierten sich ab 1933 Maßnahmen zur jüdischen Selbsthilfe. Eine Vielzahl von jüdischen Organisationen, Verbänden und Ausschüssen beteiligten sich daran und versuchten in verschiedenen Bereichen, die Auswirkungen von Schikanen zu mildern und die Opfer zu unterstützen. Finanziert wurde die Selbsthilfe durch Spenden von Juden in Deutschland, durch Mitgliedsbeiträge an Einrichtungen und durch Zuwendungen von jüdischen Organisationen aus dem Ausland.

Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft machten Veranstaltungen und Einrichtungen, die das Gemeinschaftsgefühl und den Willen zur Selbstbehauptung der Juden stärkten, einen wesentlichen Teil der Selbsthilfe aus. Dazu zählten vor allem die vom "Kulturbund der Deutschen Juden" organisierten kulturellen Veranstaltungen, die Bildungspflege, das jüdische Pressewesen und die Betätigung in jüdischen Sportvereinen. Die Aktivitäten sollten dazu beitragen, die Würde und die Selbstbehauptung der Juden trotz der erniedrigenden Lebensumstände aufrechtzuerhalten. Den Diskriminierungen sollten die Juden mit Selbstachtung und Selbstbesinnung begegnen. So rief der Chefredakteur der "Jüdischen Rundschau", Robert Weltsch (1891-1982), angesichts des Boykotts jüdischer Geschäfte​​​​​​​ im April 1933 in einem Artikel dazu auf: "Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!"

Aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 und der Übernahme des sogenannten Arierparagraphen durch nahezu sämtliche Organisationen und berufsständische Vereinigungen verloren viele Juden ihre Erwerbsmöglichkeit. Um der durch die Ausgrenzungen immer deutlicher hervortretenden wirtschaftlichen Not zu begegnen, mobilisierten jüdische Verbände Kräfte zur Absicherung jüdischer Existenzen. Einen wesentlichen Beitrag zur finanziellen Unterstützung in Not geratener Gemeindemitglieder leistete der am 13. April 1933 ins Leben gerufene "Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau" unter Vorsitz des prominenten Rabbiners Leo Baeck. Alle wichtigen jüdischen Organisationen wie der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", die Zionistische Vereinigung für Deutschland, der preußische Landesverband jüdischer Gemeinden, die Jüdische Gemeinde Berlin oder der Jüdische Frauenbund waren im Zentralausschuss vertreten. Seine Hauptaufgaben bestanden in der Wohlfahrtspflege und der Wirtschaftshilfe für Juden, die durch die Judengesetzgebung ihren Lebensunterhalt verloren hatten. Darlehnskassen, Arbeitsvermittlung, Wirtschaftshilfe für besondere Berufsgruppen, Gesundheitsfürsorge, Altenpflege, Anstaltswesen und Kriegsopferfürsorge bildeten die wichtigsten Tätigkeiten. Zudem koordinierte der Ausschuss die Hilfszahlungen jüdischer Organisationen aus dem Ausland wie des American Joint Distribution Committee oder des Central British Fund. 1935 wurde der Zentralausschuss in die "Reichsvertretung der deutschen Juden" eingegliedert.

Um die Unterstützung einer wachsenden Anzahl von jüdischen Fürsorgebedürftigen gewährleisten zu können, bauten der Zentralausschuss und der Dachverband der jüdischen Wohlfahrtspflege - die 1917 gegründete "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden" - das jüdische Wohlfahrtswesen kontinuierlich aus. Um so dringlicher wurde dies, nachdem das NS-Regime die Juden schrittweise aus der öffentlichen Fürsorge ausgegrenzt hatte. Als Reaktion auf den Ausschluss der Juden aus dem Winterhilfswerk (WHW) wurde 1935 die Jüdische Winterhilfe gegründet. Auf die Beschränkung des Besuchs staatlicher Schulen reagierte die "Reichsvertretung der deutschen Juden" mit einer Ausweitung des jüdischen Schulbetriebs. 1937 besuchte über die Hälfte der jüdischen Schulkinder eine jüdische Schule. Mit dem Ausschluss jüdischer Schulkinder von deutschen Schulen im November 1938 wurden schließlich alle Juden an jüdische Schulen verwiesen.

Ein Hauptaufgabenfeld der jüdischen Selbsthilfe bildete die Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung aus Deutschland. Sie gewann mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung und der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen stetig an Bedeutung. Die jüdische Auswanderung koordinierten neben der "Reichsvertretung der deutschen Juden" hauptsächlich drei weitere Einrichtungen: das Palästinaamt als Abteilung der "Jewish Agency for Palestine", der "Hilfsverein der deutschen Juden" als zentrale Stelle für die nicht-palästinensische Auswanderung sowie die "Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge", zuständig für die Rückführung von Juden nach Osteuropa.

Neben der Hilfe bei der Beschaffung von Ausreiseerlaubnissen und Visa stellten die Hilfsorganisationen auch finanzielle Unterstützung für die Ausreise bereit. Um die Ausreisewilligen bei der Vorbereitung zu unterstützen, wurden Beratungsstellen eingerichtet, Ausreise-Handbücher erstellt sowie Aus- und Weiterbildungskurse angeboten. Mit der Vermittlung von handwerklichen und landwirtschaftlichen Kenntnissen und durch Sprachkurse, vor allem in Hebräisch, sollten die Auswanderungsmöglichkeiten verbessert und die Ausreisewilligen auf das Leben im neuen Land vorbereitet werden. Bis zum endgültigen Verbot der jüdischen Auswanderung im Oktober 1941 stellten die Organisationen für die Emigration einen der wichtigsten Beiträge zur jüdischen Selbsthilfe dar.

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges verringerte sich der Handlungsspielraum für die jüdische Selbsthilfe zunehmend. Angesicht der im Oktober 1941 beginnenden Deportationen von Juden in die Vernichtungslager rückte gezwungenermaßen die Rettung einzelner Juden in den Vordergrund.

Ulrike Schaper
23. Juni 2015

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