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Parteien, Wahlen und Wahlrecht

Mit der Revolution von 1918/19 und der neuen Verfassung der Weimarer Republik löste das parlamentarische Regierungssystem die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreichs ab. Als wichtigste Verfassungsinstitution verfügte der Reichstag über die Gesetzgebung, das Budgetrecht und die Kontrolle der Exekutive. Der Reichspräsident repräsentierte nicht nur das Deutsche Reich nach außen, sondern verfügte gleichzeitig über weitreichende Befugnisse. Ihm oblag die Ernennung und Entlassung der Reichsregierung, der Reichsbeamten und Reichswehroffiziere. Bei erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erlaubte die Verfassung dem Präsidenten, bestimmte Grundrechte außer Kraft zu setzen, den Reichstag aufzulösen, Notverordnungen mit Gesetzescharakter zu erlassen und notfalls mit militärischer Gewalt einzuschreiten, da er zugleich den militärischen Oberbefehl über die Reichswehr ausübte. Er stellte daher ein starkes "Gegengewicht" zum Parlament dar. Der Reichsrat besaß im Gegensatz zum Bundesrat im Kaiserreich nur noch ein suspensives Vetorecht, durch welches eine Beschlußfassung oder die Durchführung eines Beschlusses lediglich aufgeschoben und nicht endgültig verworfen werden konnte.

 

Nach Artikel 22 der Weimarer Verfassung hatte das Volk in allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen den Reichstag für vier Jahre zu wählen. Wahlberechtigt waren alle Bürger über 20 Jahre. Soldaten waren für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zur Reichswehr vom Wahlrecht ausgeschlossen. Damit sollte die Loslösung der Armee vom politischen System und der Dienst dem Staat und nicht einer Staatsform gewährleistet werden. Gleichzeitig erschwerte diese Regelung aber die Kontrolle über die Reichswehr, die sich zu einem "Staat im Staate" entwickelte. Alle Bürger mit aktivem Wahlrecht besaßen mit der Vollendung des 25. Lebensjahres auch das passive Wahlrecht.

Anstelle des bisherigen Mehrheitswahlrechts hatte der Rat der Volksbeauftragten im November 1918 die Verhältniswahl ohne größere Sperrklauseln gesetzt. Im Kaiserreich konnte in jedem Wahlkreis nur derjenige Kandidat ins Parlament einziehen, der die Mehrheit an Stimmen auf sich vereinigte. Dies führte zu erheblichen Ungerechtigkeiten, da alle anderen Stimmen, die den übrigen Parteikandidaten gegeben wurden, verfielen. Mit dem neuen Verhältniswahlrecht standen nun Parteilisten zur Wahl. Dadurch sollte die prozentuale Stimmenverteilung der Wähler im Parlament genauer wiedergespiegelt werden. Die Anzahl der zu wählenden Abgeordneten wurde nach dem Reichswahlgesetz von 1918 dadurch bestimmt, dass in jedem der 36 Wahlkreise für etwa 150.000 Einwohner ein Mandat vergeben wurde. Je nach Einwohnerzahl wurden pro Wahlkreis sechs bis 17 Abgeordnete in den Reichstag gewählt. Die Zuteilung der Mandate innerhalb der Wahlkreise erfolgte nach dem vom belgischen Juristen Victor d'Hondt (1841-1901) entwickelten Höchstzahlverfahren. Eine Verrechnung der Reststimmen über den Wahlkreis hinaus war allerdings nicht vorgesehen. 

Da nach Ansicht vieler Kritiker dieses Wahlrecht den Willen des Volkes nicht exakt genug zum Ausdruck brachte, regelte das neue Reichswahlgesetz von 1920 die Stimmenverteilung nach automatischem Verfahren: auf je 60.000 Stimmen in einem Wahlkreis entfiel ein Sitz. Reststimmen wurden zunächst im Wahlkreisverband, bestehend aus zwei bis drei Wahlkreisen, addiert und für 60.000 Stimmen ein Abgeordneter in den Reichstag entsendet. Verbleibende Stimmen wurden auf Reichsebene verrechnet. Auf je 60.000 Voten konnte ein weiterer Abgeordneter in den Reichstag geschickt werden. Reststimmen auf Reichsebene von über 30.000 wurden wie volle 60.000 Stimmen gewertet, Reststimmen unter 30.000 verfielen. Die Anzahl der Reichstagsabgeordneten hing also von der Wahlbeteiligung und der Zahl der abgegeben gültigen Stimmen ab und schwankte zwischen 423 in der Nationalversammlung 1919 und 608 nach der Reichstagswahl am 31. Juli 1932.

Ein wesentliches Merkmal des Weimarer Parlamentarismus war die zunehmende Zersplitterung der Parteien. 1928 warben 37 Parteien um die Stimmen der Wähler, von denen 15 ein Mandat im Reichstag errangen. Eine Fünf-Prozent-Klausel gab es nicht. Einzige, allerdings wenig wirksame Bestimmung zur Verhinderung allzu großer Parteiensplitterung war die Regelung, dass Parteien nur dann einen Abgeordneten in den Reichstag entsenden durften, wenn sie in einem Wahlkreis mindestens 30.000 Stimmen erreicht hatten. Dies entsprach 1930 etwa 0,07 Prozent der Wähler. Ferner durften aus der Reichswahlliste nicht mehr Mandate zugeteilt werden, als die betreffende Partei in den Wahlkreisen gewonnen hatte. Diese Klauseln konnten die kleineren Parteien durch Listenverbindungen und gemeinsame Reichswahllisten umgehen. Da keine Partei die absolute Mehrheit im Reichstag erreichte, war für eine Regierungsmehrheit immer die Koalitionsbildung mehrerer Parteien notwendig. In einigen Länderparlamenten erzielte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 1918 und 1919 Ergebnisse von über 50 Prozent. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) schaffte selbiges 1932 in Mecklenburg-Schwerin und Oldenburg.

Der Reichspräsident wurde für sieben Jahre direkt vom Volk gewählt. Wählbar war jeder Deutsche, der das 35. Lebensjahr vollendet hatte. Wurde kein Kandidat im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt, reichte in einem zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit. Bei den Reichspräsidentenwahlen 1925 und 1932 ging jeweils Paul von Hindenburg als Sieger im zweiten Wahlgang hervor.

Die Landtagswahlen erfolgten nach Landeswahlgesetzen, die von Land zu Land verschieden ausfielen. Während in Baden, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Preußen und Thüringen in Anlehnung an das Reichswahlgesetz die Sitzverteilung nach der automatischen Methode durchgeführt wurde, galt in Anhalt, Bayern, Braunschweig, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Strelitz, Lippe, Lübeck, Sachsen, Schaumburg-Lippe, Waldeck und Württemberg das Höchstzahlverfahren nach d'Hondt.

Johannes Leicht
3. April 2005

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