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Wissenschaft und Forschung

Bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Technologien belegte Deutschland dank des intensiven Zusammenwirkens von wissenschaftlicher Forschung und Kapital, das Unternehmer zur Verfügung stellten, weltweit einen führenden Platz. Die Forschung an den deutschen Universitäten zeichnete sich im Kaiserreich durch beachtliches Niveau aus. Gesellschaftspolitisch hingegen waren die Universitäten Bollwerke tradierter Normen und Wertvorstellungen. Vor allem die Studierenden entwickelten starke Affinitäten zum Antisemitismus. Liberale Forscher und Gelehrte wie Rudolf Virchow oder Theodor Mommsen wurden seit den achtziger Jahren immer seltener. Sozialdemokraten erhielten keine Lehrbefugnis. Seit 1908 waren in ganz Deutschland auch Frauen zum Hochschulstudium zugelassen.

Neue Erfindungen

Technisch-industrielle Errungenschaften und Erfindungen veränderten die gewohnten Lebenswelten grundlegend. Die erste Vermittlungsstelle für Ortstelefongespräche im Deutschen Reich wurde 1881 in Berlin eingerichtet. Bis zum Ersten Weltkrieg fanden Wand- und Tischtelefone vor allem in Amtsstuben Verbreitung. Ab 1889 wurden Elektromotoren für Drehstrom entwickelt. Sie verdrängten Dampfmaschinen aufgrund ihrer höheren Flexibilität. Elektromotoren mit bis zu 2 PS kamen besonders in kleineren Handwerksbetrieben zum Einsatz. Carl Benz fuhr am 3. Juli 1886 erstmals mit seinem Motorwagen eine Strecke von zirka 100 Metern durch Mannheim. Dies gilt als Geburtsdatum des Automobils. Benz setzte als Erster einen Verbrennungsmotor ein. Gewaltigen Aufschwung in Deutschland nahm die Luftfahrt, nachdem der Ingenieur Otto Lilienthal (1848-1896) erste Gleitflüge unternommen hatte. Lilienthal plante, einen Benzinmotor in einen Gleiter einzubauen. Noch bevor er dieses Vorhaben verwirklichen konnte, verunglückte er bei einem Absturz tödlich. Zum ersten erfolgreichen Motorflug hoben 1903 die Brüder Wright in den USA ab.

Größte Aufmerksamkeit in Deutschland erregten seit 1900 die Luftschiffe des Grafen Ferdinand von Zeppelin. Nach mehreren Rückschlägen seit 1900 gelang Zeppelin mit seinem dritten Luftschiff LZ 3 der Durchbruch, dessen Fahrten in der Öffentlichkeit auf große Aufmerksamkeit stießen. Ein wahrer Publikumsmagnet waren die auf dem 1909 eröffneten Flugplatz Johannisthal bei Berlin abgehaltenen Flugwochen. Für die Beherrschung des Luftraumes interessierte sich von Anbeginn auch die deutsche Armee, die den Vorsprung des französischen Militärs auf diesem Gebiet einzuholen versuchte.

Die von der Hochindustrialisierung ausgelösten Umbrüche beschleunigten vor allem die Entwicklung der naturwissenschaftlichen und technisch-orientierten Fächer an den Universitäten und Hochschulen. Zugleich erhielt die schulische Ausbildung einen stärkeren Praxisbezug und richtete sich an den Bedürfnissen von Wirtschaft, Industrie und Verwaltung aus.

Röntgenstrahlen und Nobelpreise

Einen Höhepunkt erreichte die Förderung von Wissenschaft und Forschung mit der 1911 in Berlin gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (heute: Max-Planck-Gesellschaft). Um die Jahrhundertwende erlangten die deutschen Universitäten mit ihrer systematischen Grundlagenforschung sowie die erstmals in großem Umfang eingeführten außeruniversitären Forschungseinrichtungen weltweiten Vorbildcharakter: Von den 42 zwischen 1901 und 1914 verliehenen naturwissenschaftlichen Nobelpreisen ging jeder dritte an einen deutschen Forscher.

Der Entdecker der elektromagnetischen Strahlen Wilhelm Conrad Röntgen erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Physik. In den Körper zu schauen, ohne ihn zu öffnen, war bis 1900 eine abenteuerliche Vorstellung. Durch die von Röntgen 1895 entdeckten X-Strahlen war es nun möglich, auch im Innern Krankheiten aufzuspüren. Zu den mit diesem Nobelpreis ausgezeichneten Wissenschaftlern zählten u.a. auch die Physiker Max Planck und Max von Laue.

Den Nobelpreis für Medizin erhielt 1905 Robert Koch als Entdecker des Tuberkulose- und des Cholera-Virus. Koch hatte die Mikroskopie perfektioniert, um die Untersuchungsmöglichkeiten von Bakterienkulturen zu verbessern. Er konnte als erster Mikroorganismen als Ursache von Infektionskrankheiten nachweisen. Seine Entdeckungen ermöglichten eine gezielte Bekämpfung von Cholera und Tuberkulose. Mit Albert Einstein wurde 1914 einer der bekanntesten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts zum Direktor an das 1914 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik berufen. Im Streit um die von Einstein entwickelte Relativitätstheorie bildete sich dann nach dem Ersten Weltkrieg die "Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft", die insbesondere Einsteins Pazifismus und Antimilitarismus sowie seine jüdische Abstammung zum Gegenstand einer antisemitischen Kampagne machte. Gegen den auch an den Universitäten stark verbreiteten Antisemitismus hatte sich schon vorher der Historiker Theodor Mommsen gewandt, der wie Rudolf Eucken, Paul Heyse und Gerhart Hauptmann Nobelpreisträger für Literatur war.

Schule und Universitäten

An den deutschen Universitäten herrschte ein stark konservativer Geist. So war für Studenten die Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung fast selbstverständlich, denn die "Alten Herren" der Burschenschaften hatten bei der Verteilung von Ämtern ein gewichtiges Wort mitzureden. Die Mitgliedschaft in einem Corps hatte ein ebenso hohes Sozialprestige wie der Status eines Reserveoffiziers; Studentinnen hatten keinen Zugang zu dieser "Männerwelt".

Bekleideten die Absolventen der Universitäten hauptsächlich Führungspositionen im öffentlichen Bereich, so befriedigten die Technischen Hochschulen vor allem den Bedarf der großen Wirtschaftsunternehmen an wissenschaftlich ausgebildeten Technikern und Ingenieuren. Als Angestellte übernahmen die Hochschulabsolventen immer mehr Leitungs- und Kontrollfunktionen der noch handwerklich ausgebildeten Meister. Mit der Verleihung des Promotionsrechts erreichten die Technischen Hochschulen 1899 die lange angestrebte Gleichstellung mit den Universitäten.

Die technisch-industrielle Entwicklung brachte nicht nur den neuen Typ der Technischen Hochschule und die außeruniversitären Forschungsstätten auf den Weg, sondern sie formte auch das Schulwesen um. Die klassische Gelehrtenschule, das auf altsprachlichen Unterricht aufbauende humanistische Gymnasium, erhielt mit der Realschule und dem Realgymnasium eine Konkurrenz, die sich stärker den modernen Sprachen und naturwissenschaftlichen Fächern widmete. Zwar konnten Absolventen der Realgymnasien schon seit 1859 Natur- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten studieren, doch erst 1900 wurden die Reifezeugnisse der Realgymnasien - ebenso wie die der ab 1882 eingerichteten lateinlosen Oberrealschulen - den Abschlüssen der humanistischen Gymnasien grundsätzlich gleichgestellt.

Zugleich wurden die ersten höheren Mädchenschulen gegründet. Sie erhielten 1908 auch in Preußen das Recht zur allgemeinen Reifeprüfung. Vorher konnten Frauen ihr Abitur nur unter erschwerten Bedingungen ablegen. Seit dem Wintersemester 1908/09 waren Frauen zur regulären Immatrikulation an den preußischen Hochschulen zugelassen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren 4.000 Frauen immatrikuliert; die Zahl ihrer Kommilitonen war inzwischen von 13.000 (1871) über 34.000 (1900) auf 56.000 gestiegen.

Burkhard Asmuss
22. Oktober 2015

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