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"Ordnungszelle" Bayern

Während des Ersten Weltkriegs gewannen im Agrarüberschussland Bayern viele Einheimische den Eindruck, durch die als schikanös empfundene Lebensmittelrationierung vom Reich ausgeplündert zu werden. Zunehmender Prestigeverfall der Staatsautorität und sich in einen regelrechten Volkshass steigernde antipreußische Stimmung überdauerten auch die Revolution von 1918/19. Dass ausgerechnet das konservative und traditionsbewusste Bayern mit der Münchner Räterepublik Schauplatz der radikalsten revolutionären Erhebung in Deutschland wurde, hatte für weite Teile der bayerischen Bevölkerung traumatisierende Auswirkungen. Die Angst vor einer erneuten Bedrohung durch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und eine tief empfundene Ablehnung linker Bestrebungen bereiteten den Boden für eine massive Radikalisierung nach rechts. Gustav Ritter von Kahr, seit März 1920 bayerischer Ministerpräsident, wollte Bayern als rechte "Ordnungszelle" innerhalb einer vermeintlich in "marxistischem Chaos" versinkenden und vollkommen "verjudeten" Weimarer Republik erhalten.

Unter dem republikfeindlichen Kurs bayerischer Rechtsregierungen entwickelte sich der zweitgrößte Einzelstaat des Reichs zu einem Aufmarschgebiet von Rechtsextremen, wo selbst steckbrieflich gesuchte Mörder der berüchtigten Organisation Consul - die für die Ermordung von Walther Rathenau und andere Anschläge verantwortlich war - sichere Zuflucht genossen. Ungehindert von bayerischen Behörden konnten rechte Republikfeinde von Bayern aus Hetze gegen die "jüdischen Novemberverbrecher" entfalten. Vor allem München wurde zu einem Zentrum rechter Agitation von "vaterländischen" und völkischen Gruppierungen.

Der schwelende Konflikt zwischen Bayern und dem Reich brach im Herbst 1923 offen aus. Die bayerische Regierung hatte aus Protest gegen die Beendigung des passiven Widerstands im Ruhrgebiet durch die Reichsregierung am 26. September 1923 den Ausnahmezustand über das Land verhängt. Reichspräsident Friedrich Ebert reagierte auf den Versuch, in Bayern eine Rechtsdiktatur zu etablieren, mit der Verhängung des Ausnahmezustands über das ganze Reichsgebiet. Die vollziehende Gewalt übertrug er Reichswehrminister Otto Geßler. Einen Befehl Geßlers, den "Völkischen Beobachter" wegen Beleidigung der Reichsregierung zu verbieten, ignorierte der von der bayerischen Regierung nun zum Generalstaatskommissar ernannte Gustav Ritter von Kahr. Stattdessen unterstellte er die in Bayern stationierten Einheiten der Reichswehr seiner Befehlsgewalt. Mit diesem Hochverrat erkannte der in Bayern mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Kahr die Befugnisse der Reichsregierung nicht mehr an. Zusammen mit dem bayerischen Wehrkreiskommandeur Otto von Lossow strebte Kahr eine von Bayern ausgehende nationale Erhebung gegen die Weimarer Republik an. Sie sahen in einem Staatsstreich und in der Diktatur den einzigen Ausweg aus der - nach ihrer Meinung - vom "parlamentarischen System" verursachten Krise. Die politischen Verhältnisse der "Ordnungszelle" Bayern wollten Kahr und Lossow auf das Reich übertragen.

Keine Bereitschaft zeigten sie, einen von Adolf Hitler geplanten Umsturz mitzutragen. Die politische Atmosphäre in Bayern hatte der 1922 in Preußen verbotenen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter Führung Hitlers geradezu ideale Bedingungen zur ungestörten Entfaltung und zur Etablierung als eine der führenden Kräfte im rechtsextremen Lager geboten. Am Morgen des 9. November 1923 schlugen Einheiten der bayerischen Landespolizei den dilettantisch durchgeführten Hitler-Putsch in München nieder. Nachdem Kahr im Februar 1924 seine Ämter auf politischen Druck niederlegen musste, entspannte sich das Verhältnis zwischen Bayern und dem Reich.

Arnulf Scriba
17. September 2014

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