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Thomas Mann: Der Zauberberg

Der Roman von Thomas Mann entstand von 1913 bis 1924 und erschien 1924. Im Jahre 1912 verbrachte Thomas Manns Frau mehrere Monate in einem Davoser Lungensanatorium; die Eindrücke, die der Autor bei seinen Besuchen empfing, bewogen ihn zu einer »Art humoristischem Gegenstück« zu seiner Erzählung "Der Tod in Venedig" (1912). Anstelle des etablierten Künstlers Gustav von Aschenbach sollte nun ein unbekannter Bürgersohn (Hans Castorp) stehen, als Pendant zum Verführer Tadzio erscheint die »Asiatin« Clawdia Chauchat, Symbol für den Niedergang ist statt der Cholera nunmehr die Tuberkulose. Der Erste Weltkrieg führte, im Sommer 1915, zur Unterbrechung der Arbeit, die erst 1919 wieder aufgenommen wurde. War der Krieg von Mann zunächst als Läuterung einer verfallenden Zeit gesehen worden, so ist ihm am Ende jedes positive Moment genommen. Der auf zwei Bände angwachsene Roman weiterte sich zum Zeitroman aus, zur Kritik an spätbürgerlichen Lebens- und Denkformen der Vorkriegszeit, deren Repräsentanten auf dem »Zauberberg« versammelt sind; zugleich aber treibt Thomas Mann seine leitmotivische Erzähltechnik, sein ironisches Spiel mit Bildungszitaten und Weltanschauungen in diesem Buch so weit voran, dass die Forschung das Werk als Bildungsroman, als »intellektuellen« oder »metaphyischen« Roman zu verstehen suchte. Der früh verwaiste Hamburger Patriziersohn Hans Castorp besucht nach bestandenem Ingenieur-Examen vor dem geplanten Eintritt in eine Schiffsbauwerft seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen in einem Sanatorium in Davos. Zunächst befremdet über die »hier oben« herrschende Lebensart, ordnet er sich zögernd in den Kurbetrieb ein, der, selbst auf Profit ausgerichtet, die Patienten aus ihren gewohnten bürgerlichen Verhaltensweisen reißt, sie in einen Zustand der Zeitlosigkeit und Pflichtvergessenheit versetzt: »Man ändert hier seine Begriffe«, prophezeit Joachim Ziemßen seinem Besucher. Anspielungen auf den Hades der Antike, auf den Hexenberg in Goethes "Faust" oder den Venusberg in Wagners "Tannhäuser" begleiten die Beschreibung des »Zauberbergs«, eine mystische, traumverlorene Welt, in jeder Hinsicht das Gegenbild zum »Flachland« und der dort herrschenden Ordnung und Disziplin.

Drei Wochen will Hans Castorp zunächst zu Besuch in Davos bleiben, eine leichte Erkältung führt schließlich zu einer Verlängerung seines Aufenthalts, mit dessen Verlauf ein zunehmendes Desinteresse an der Welt des "Flachlandes" einhergeht. Der Italiener Lodovico Settembrini, Aufklärungsoptimist und "Zivilisationsliterat", Republikaner und Humanist, der im Abschnitt "Satana" seinen ersten Auftritt hat ("Bosheit, mein Herr, ist der Geist der Kritik, und Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschritts und der Aufklärung") drängt ihn zur Abreise. Hans Castorp aber unterliegt der Faszination der Russin Clawdia Chauchat; sie vor allem hält ihn in dem Sanatorium zurück, bis es endlich im fünften von insgesamt sieben Kapiteln - der Abschnitt ist mit dem Titel "Walpurgisnacht" überschrieben und spielt am Faschingsabend - zur Liebesbegegnung mit ihr kommt, vom Autor nur indirekt angedeutet.

Sieben Monate sind bis dahin verstrichen, und der sich anschließende Teil des Romans erzählt von der restlichen Zeit der insgesamt sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem "Zauberberg" verbringt. Clawdia Chauchat reist ab, Settembrini zieht in das Dorf hinab. Auch Hans Castorps Vetter verläßt entgegen den ärztlichen Ratschlägen das Sanatorium und kehrt zum Sterben zurück. Zwei Personen treten nun vor allem auf: der Jesuit und Kommunist Leo Naphta (für den der Philosoph und Literaturtheoretiker Georg Lukács (1885-1971) Modell gestanden haben soll), der sich mit Settembrini erbitterte Diskussionen liefert, sowie Mynheer Pieter Peeperkorn, ein holländischer Kaffeepflanzer voller Vitalität, der Züge Gerhart Hauptmanns trägt und an dessen Seite Clawdia Chauchat wieder im Sanatorium erscheint. Aufgrund seiner "Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken", wird Peeperkorn sich schließlich in den Tod flüchten. Zuvor allerdings gibt er Hans Castorp Gelegenheit, seine erotischen Begierden gleichsam sozialverträglich zu überwinden, dem männlichen Konkurrenzkampf zu entgehen und sich für Clawdia zum "guten Menschen", für Mynheer Peeperkorn zum "Bruder" zu stilisieren. Nach Peeperkorns Tod und Clawdias endgültiger Abreise herrscht, wie ein Abschnitt überschrieben ist, der "große Stumpfsinn", gelindert nur durch die "Fülle des Wohllauts", die ein Grammophon hervorbringt, auf dem Hans Castorp "Aida und "Carmen", vor allem aber Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore" hört. Ansonsten jedoch entwickelt sich eine "große Gereiztheit", die zum Pistolenduell zwischen Naphta und Settembrini führt, bei dem beide sich dem Zwang, aufeinander schießen zu müssen, auf ihre Weise entledigen: Settembrini schießt in die Luft, Naphta tötet sich selbst. Das morbide Treiben - Hans Castorp sitzt schließlich am "schlechten Russentisch" und hat sich ein Bärtchen stehen lassen, "als Zeugnis einer gewissen philosophischen Gleichgültigkeit gegen sein Äußeres" - findet durch den "Donnerschlag" des Krieges ein unvermitteltes Ende; der Roman verliert seinen Helden als anonymen Soldaten im Angriff "aus den Augen", mit Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore" auf den Lippen: "Lebewohl Hans Castorp ... Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig noch Heilige es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel."

Die Zeit, die im traditionellen Bildungsroman die Perspektive der Fortentwicklung zu garantieren schien, birgt in Thomas Manns Roman keine Utopie mehr, wie auch die antithetischen Betrachtungen Naphtas und Settembrinis ("sie sind beide Schwätzer") keine inhaltliche Synthese erfahren. Eine Kommentierung aus der Sicht Hans Castorps bietet der mit "Schnee" überschriebene Absatz des sechsten Kapitels, ein verkleinertes Modell des gesamten Romans und von Thomas Mann rückblickend gerne an den Schluß des gesamten Werkes positioniert, in dem Castorp sich auf Skiern in das Hochgebirge wagt, nicht ohne fortwährende Reminiszenzen an die beiden Kontrahenten ("Ach ja, du pädagogischer Satana... Übrigens habe ich dich gern. Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit und Terrotist..., obgleich er fast immer recht hat, wenn ihr euch zankt ..."), und dort im Schneesturm sich verirrt, im Kreis läuft. Die Szene mündet in einen Traum mit der kursiv gesetzten Quintessenz: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Diese Absage an die mit dem Tod verbundene Sinnlichkeit und die damit implizierte Aufwertung von Ethos und Bewußtsein wird jedoch nicht nur durch die Bemerkung relativiert, dass Hans Castorp schon bald nach seiner Heimkehr seinen Traum "nicht mehr so recht" verstand; bereits im Traum selbst erscheint der Tod - er ist "Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust" - als fortwährende Versuchung zum ekstatischen, auch von Erotik geprägten Leben, nur durch den gewissenhaften Vorsatz zu bändigen: "Ich will dem Tod die Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, dass Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren." Nichts anderes als Thomas Manns eigene Lebensproblematik, die Suche nach dem Ausgleich von Leben und Geist, scheint letztlich im "Zauberberg" wieder auf. "Der Roman erzählt, je länger er dauert, desto weniger von Castorp und desto mehr von Thomas Mann", so das Fazit von Martin Walser, der an diesem Beispiel eine vehemente Kritik am ironischen Erzählverfahren des Autors, seinem distanzierten Spiel mit Symbolen und Motiven übt, eine Kritik, die das Werk des Autors von Anfang an begleitet hat. Es wird allgemein als Kennzeichen der Klassizität Thomas Mann gewertet, dass eine literarische Nachwirkung seines Werkes kaum vorhanden ist, somit die Anmerkungen des Schriftstellers Walser eher eine Ausnahme darstellen, während für die Fachwissenschaft der Rang seines Werks und des "Zauberbergs" als "klassischer Roman" (H. Koopmann) im besonderen unbestritten ist.

(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)

do/Arnulf Scriba

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