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    Schlafende Kinder im Warschauer Ghetto, 1941

> Der Zweite Weltkrieg > Völkermord

Das Ghetto Warschau

Vier Wochen nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen besetzte die Wehrmacht Ende September 1939 Warschau. Die jüdische Gemeinde dort war mit über 380.000 Mitgliedern die größte Europas und umfasste ungefähr ein Drittel der Bevölkerung in der polnischen Hauptstadt. Die gesamte jüdische Gemeinde unterlag mit Beginn der deutschen Besatzung einer Vielzahl willkürlicher Zwangsmaßnahmen, zu denen die Kennzeichnungspflicht, eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Beschlagnahmung jüdischen Eigentums und gewalttätige Übergriffe zählten. Erste Schritte zu einer Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung unternahm die deutsche Besatzungsmacht im November 1939, als der Militärbefehlshaber einen überwiegend von Juden bewohnten Teil der Altstadt zum "Seuchensperrgebiet" erklärte, das von deutschen Soldaten nicht betreten werden durfte. Nach einer Reihe unterschiedlichster Verordnungen und Planungsansätze erfolgte am 2. Oktober 1940 der Befehl zur endgültigen Bildung eines Ghettos. Innerhalb von sechs Wochen musste die gesamte jüdische Bevölkerung in das festgelegte Gebiet ziehen, während die dortigen nichtjüdischen Anwohner gezwungen wurden, ihre Wohnungen zu verlassen.

 

Auf engstem Raum zusammengepfercht, lebten über 350.000 Menschen im Ghetto, das Mitte November 1940 vom Rest der Stadt abgeriegelt und mit einer drei Meter hohen Mauer umgeben wurde. Den Wachdienst an den Außenmauern übernahmen deutsche und polnische Polizeikräfte, auf der Innenseite war der Jüdische Ordnungsdienst für die Bewachung des Ghettos verantwortlich. Wie in anderen Ghettos setzte die deutsche Besatzungsmacht in Warschau einen Judenrat ein, zu dessen Vorsitzenden sie Adam Czerniaków (1880-1942) ernannte. Der Rat war als Bindeglied zwischen den deutschen Stellen und der jüdischen Bevölkerung für die innere Verwaltung des Ghettos, die Fürsorge für die Ärmsten und für die Durchführung der deutschen Verordnungen verantwortlich. Die sogenannte Transferstelle Warschau fungierte als deutsche Verwaltung des Ghettos. Sie regelte und kontrollierte den Wirtschaftsverkehr zwischen dem Ghetto und der Außenwelt.

Ihren Lebensunterhalt mussten die eingesperrten Menschen selbst bestreiten. Anfangs sahen sich die Ghettobewohner gezwungen, ihr privates Vermögen für den Erwerb lebensnotwendiger Güter zu veräußern. Diese ohnehin zeitbefristete Existenzgrundlage gelangte durch Beschlagnahmungen der deutschen Behörden schnell an ihr Ende, so dass die Zwangsarbeit in den Vordergrund des Überlebenskampfs rückte. Neben den ghettoeigenen Betrieben waren in Warschau ungefähr 50 Privatbetriebe ansässig, die sich der verarmten jüdischen Arbeitskräfte bedienten und in großem Umfang für die Wehrmacht produzierten.

Die Lebensbedingungen im Ghetto waren infolge der beengten Wohn- und schlechten Hygieneverhältnisse sowie der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten katastrophal. Insbesondere Kinder und alte Menschen starben an Hunger, Krankheiten und Epidemien, zehntausende anderer Ghettobewohner durch den Terror der Besatzungsmacht. Trotz zahlreicher Maßnahmen der deutschen Behörden entwickelten sich innerhalb der jüdischen Bevölkerung Widerstandskräfte. Diese konzentrierten sich zunächst vor allem auf den Kampf gegen den Hunger. Die Isolierung des Warschauer Ghettos war nicht vollkommen, so dass Lebensmittel aus dem restlichen Stadtgebiet in den abgeschlossenen Wohnbezirk geschmuggelt werden konnten. Gefahr bestand dabei für die schmuggelnden Personen nicht nur durch Kontrollen der Deutschen, sondern auch durch ein Denunziantentum der nichtjüdischen, teils stark antisemitisch eingestellten Bevölkerung Warschaus.

Im Ghetto entwickelten sich verschiedenste Formen der kulturellen Betätigung. Fundamentale Bedeutung erlangte die Arbeit des konspirativen Archivs des Ghettos, das heute als Ringelblum-Archiv bekannt ist, benannt nach seinem Gründer und Leiter Emanuel Ringelblum (1900-1944). Eine Vielzahl von Berichten der Mitarbeiter der Gruppe um Ringelblum konnten nach dem Krieg aus Verstecken geborgen werden und gaben Auskunft über das Schicksal der Juden in Warschau und anderen Teilen des besetzten Polens.

Trotz der ohnehin beengten Lebensverhältnisse im Ghetto nahmen die deutschen Behörden sogenannte Einsiedlungen weiterer jüdischer Bevölkerungsgruppen vor. Zwischen Januar und März 1941 deportierten die deutschen Befehlshaber ungefähr 50.000 Juden aus dem westlichen Teil des Warschauer Distrikts in das Ghetto. Von April bis Juli 1942 wurden 6.000 bis 7.000 Juden aus der Region östlich von Warschau sowie aus Böhmen und dem Altreich ins Ghetto verschleppt. Etwa zur selben Zeit trafen Transporte mit mehreren Gruppen von Sinti und Roma ein, darunter aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" begann der Abtransport der Ghettobewohner ins im nordöstlichen Teil des Generalgouvernements gelegene Vernichtungslager Treblinka am 22. Juli 1942. Um der erzwungenen Kooperation mit den deutschen Behörden bei der Auswahl der zu deportierenden Bevölkerung zu entgehen, wählte der Vorsitzende des Judenrats Czerniaków den Freitod.

Im April 1943 beschlossen die deutschen Behörden die Auflösung des Warschauer Ghettos, jedoch stießen sie dabei am 19. April 1943 auf bewaffnete Gegenwehr der jüdischen Bevölkerung. Der aus verschiedenen jüdischen Parteien und Gruppen gebildeten jüdischen Kampforganisation "Zydowska Organizacja Bojowa" gelang es, sich mehrere Wochen lang den deutschen Truppen unter SS-General Jürgen Stroop (1895-1952) entgegenzusetzen. Erst mit der Niederbrennung des gesamten Ghettogeländes konnten die deutschen Einheiten das Gebiet bis zum 16. Mai 1943 wieder unter ihre Kontrolle bringen. Die Überlebenden des Ghettoaufstandes wurden in die Vernichtungslager Treblinka und Majdanek sowie in verschiedene Zwangsarbeitslager gebracht. Insgesamt wurden über die Jahre fast eine halbe Million Menschen ins Warschauer Ghetto verschleppt. Die Zahl der Überlebenden beläuft sich auf wenige tausend.

Susanne Härtel
15. Mai 2015

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