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Innenpolitik

Das deutsche Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie. Die politische und militärische Führung lag beim Kaiser, der zugleich preußischer König und oberster Kirchenherr der Protestanten war. Bis auf einen kurzen Zeitraum war der vom Kaiser ernannte Reichskanzler auch preußischer Ministerpräsident. Die Rechte des nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Reichstags beschränkten sich auf die Mitwirkung beim Gesetzgebungsverfahren und die Verabschiedung des Budgets. Die Forderung nach Einführung einer parlamentarischen Monarchie mit einer Verantwortlichkeit der Minister gegenüber der gewählten Volksvertretung wurde von den konservativen Eliten vehement abgelehnt.

von 1871 bis 1890

Die Sorge um den inneren Zusammenhalt des nach drei Kriegen gegründeten Kaiserreichs bestimmte unter Otto von Bismarck zunächst auch die Innenpolitik. Der vom Pietismus beeinflusste Reichskanzler empfand den politischen Katholizismus als Bedrohung für die preußisch-protestantische Monarchie, und in der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung sah Bismarck als altpreußischer Junker eine ebenso große Gefahr für den tradierten Gesellschaftsaufbau. Alle Maßnahmen gegen den politischen Katholizismus - von der Schließung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium über den "Kanzelparagraphen" und die staatliche Schulaufsicht sowie die Einführung der Zivilehe bis hin zum Verbot der geistlichen Orden - stärkten jedoch den Zusammenhalt der katholischen Bevölkerung mit ihren geistlichen und weltlichen Vertretern. Der "Kulturkampf" führte zu einer eindeutigen Niederlage Bismarcks. Mit "Milderungsgesetzen" und später folgenden "Friedensgesetzen" wurde der "Kulturkampf" ab 1880 zwar auch formell eingestellt, aber Regelungen wie die staatliche Schulaufsicht und die Zivilehe hatten weiter Bestand; der "Kanzelparagraph" wurde erst 1953 vom Deutschen Bundestag aufgehoben. Als besonders verletzend empfand das Zentrum als Partei des politischen Katholizismus die Tatsache, dass Bismarck alle Katholiken pauschal als "romhörige" Papstanhänger betrachtete und ihre "nationale Zuverlässigkeit" in Zweifel zog.

Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. lieferten Bismarck 1878 den Anlass, mit einem Reichsgesetz gegen "die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" vorzugehen. Doch dieses mit den Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen erlassene Ausnahmegesetz war auf Dauer ebenso erfolglos wie der "Kulturkampf" gegen den katholischen Bevölkerungsteil. Nach zwölf Jahren wurde das "Sozialistengesetz" nicht mehr verlängert. Trotz aller polizeistaatlichen Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen hatte die Sozialdemokratische Partei unter diesem Gesetz ihren Stimmenanteil bei den Reichstagswahlen verdreifacht. Obwohl die Sozialdemokraten seit 1890 bei allen Reichstagswahlen am meisten Stimmen erhielten, wurden sie erst 1912 auch stärkste Fraktion im Reichstag. Keine Partei war durch die Einteilung der Wahlkreise so benachteiligt wie die Sozialdemokratie, keine so bevorteilt wie die Konservativen in den preußischen Ostprovinzen.

Um die Sozialdemokratie zu schwächen und die Arbeiter stärker an den Staat heranzuführen, wurde 1883 die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt, 1884 folgte die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invaliditätsversicherung, die jedem Arbeitnehmer nach dem 70. Lebensjahr eine Alters- und im Fall von Arbeitsunfähigkeit eine Invalidenrente sicherte. Die deutsche Sozialgesetzgebung galt weltweit als vorbildlich, wenngleich die daraus resultierenden Leistungen von den Sozialdemokraten als unzureichend kritisiert wurden. Während Bismarck sich 1890 für eine Verlängerung des "Sozialistengesetzes" aussprach, suchte Kaiser Wilhelm II. in den ersten Jahren nach seiner Thronbesteigung einen Ausgleich mit der Arbeiterbewegung. Dieser Zwist bot den Anlass für die Entlassung des alten Reichskanzlers.

Von 1890 bis 1914

Nach der Entlassung Bismarcks betrieb Wilhelm II. seine Politik des "persönlichen Regiments" und griff dabei auch die "soziale Frage" auf. Die Sonntagsarbeit für Kinder wurde unter dem neuen Reichskanzler Leo von Caprivi generell verboten, ebenso die Fabrikarbeit für Kinder unter 13 Jahren. Die Arbeitszeit für Frauen wurde auf elf und die für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehn Stunden täglich begrenzt. Als diese Reformen jedoch nicht die gewünschte Trennung der Arbeiterschaft von der SPD brachten, schwenkte Wilhelm II. wieder auf die repressive Linie ein. Weder der Kaiser noch seine politischen Ratgeber begriffen, dass die "soziale Frage" des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht mit den Mitteln staatlicher Fürsorge zu lösen war, sondern dass es bei der "Arbeiterfrage" um die verfassungsrechtliche Integration einer neuen Klasse in Staat und Gesellschaft ging. Überzeugt vom Gottesgnadentum seiner Monarchie und der tradierten Gesellschaftsordnung, wies der Kaiser alle Bestrebungen nach Einführung einer parlamentarischen Demokratie, die seine kaiserlichen Rechte geschmälert und die der gewählten Volksvertretung erweitert hätte, entschieden zurück. Wie schon zuvor Bismarck, spielte auch Wilhelm II. gelegentlich mit dem Gedanken eines Staatsstreichs und der Übertragung des preußischen Dreiklassenwahlrechts auf das Reich.

Unter Caprivi unterstützten die Sozialdemokraten erstmals eine Regierungsvorlage, als sie den Handelsverträgen von 1891-1893 zustimmten, durch die der Preis für eine Tonne Roggen sich von 208 Mark (1891) auf 110 Mark (1894) verbilligte. Doch bei den Handelsverträgen ging es Caprivi weniger um die Senkung des Brotpreises und der Lebenshaltungskosten für Arbeiterfamilien, sondern vorrangig um die Schaffung von Exportmöglichkeiten für die deutsche Industrie durch niedrige Zölle. Auch Caprivis Nachfolger, der 1894 mit 75 Jahren zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten berufene Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, hatte wenig Verständnis für die tieferliegenden Ursachen der "sozialen Frage". Er strebte eine Politik der Sammlung aller bürgerlichen Kräfte gegen die Sozialdemokratie an und legte dem Reichstag 1894 eine Novelle zur Verschärfung des Strafrechts für politische Delikte vor. Als diese "Umsturzvorlage" im Reichstag scheiterte, verlagerte sich der "Kampf gegen die gottlosen Sozialdemokraten" auf die Ebene der Länder. So führte das industriell entwickelte Sachsen 1896 das Dreiklassenwahlrecht ein. Bei den folgenden Wahlen zur zweiten sächsischen Kammer verlor die SPD unter dem neuen Wahlrecht alle bisherigen Sitze.

Im Preußischen Abgeordnetenhaus lehnten 1897 auch die Nationalliberalen das sog. kleine Sozialistengesetz ab, weil von dessen ausgreifender Verbotspraxis auch andere Parteien als die SPD hätten betroffen werden können. Allerdings wurde mit der "Lex Arons" Sozialdemokraten in das akademische Lehramt verweigert. Als die auf Anregung des Kaisers vom Staatssekretär des Innern, Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, eingereichte "Zuchthausvorlage", die härtere Strafen für die Ausübung von Zwang zur Teilnahme an Streiks oder zum Gewerkschaftsbeitritt vorsah ("Koalitionszwang"), 1899 im Reichstag scheiterte, endete zunächst die repressive Politik gegen die Sozialdemokratie. Das von Bismarck verhängte Verbot von Diäten für die Reichstagsabgeordneten, mit dem ursprünglich die Teilnahme von Sozialdemokraten an den Reichstagssitzungen erschwert werden sollte, wurde aufgehoben. Die ins Stocken geratene Sozialgesetzgebung wurde mit neuem Elan vorangetrieben. Dass die Interessen der Agrarier nicht zu kurz kamen, zeigte sich, als die Zolltarife 1903 nach heftigem Drängen des Bundes deutscher Landwirte (BdL) wieder auf den Stand von vor 1892 angehoben wurden. Neuen Zündstoff in die Innenpolitik trug ein Nachtragshaushalt, mit dem die Kosten für die Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika gedeckt werden sollten. Als der Reichstag den geforderten Nachtragshaushalt mit den Stimmen von Zentrum und SPD im Dezember 1906 ablehnte, sah die Reichsregierung Deutschland als Kolonialmacht gefährdet und betrachtete die Ablehnung als schweren Eingriff in die kaiserliche Kommandogewalt. Unmittelbar nach der Abstimmung löste Reichskanzler Bernhard von Bülow den Reichstag auf und gab als Wahlparole den Kampf gegen Zentrum und Sozialdemokratie aus.

Trotz des Zugewinns von 250.000 Stimmen verlor die SPD aufgrund der überkommenen Wahlkreiseinteilung 38 ihrer 81 Sitze, das Zentrum gewann fünf Sitze hinzu und war mit 105 Abgeordneten im Reichstag vertreten. Aus Rücksicht auf die Interessen des linken Flügels der ihm nahestehenden Parteien liberalisierte Bülow 1908 das Vereinsgesetz, das nun auch Frauen die Teilnahme an Vereinen und Versammlungen ermöglichte. Regierungsbezirken mit einem Anteil von über 60 Prozent fremdsprachlicher Bevölkerung gestattete das Vereinsgesetz für 20 Jahre den Gebrauch der nicht deutschen Muttersprache. In Preußen wurde demgegenüber die "Germanisierungspolitik" gegen die polnische Bevölkerung mit einem "Enteignungsgesetz" verschärft.

Innenpolitische Erschütterungen lösten zwei Skandale aus. In seiner Zeitschrift "Zukunft" deutete Maximilian Harden an, der ehemalige Botschafter in Wien, Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, sei homosexuell und habe als persönlicher Freund des Kaisers einen unheilvollen Einfluß auf die Politik ausgeübt. Weitaus stärker erschüttert wurde das Ansehen des Kaisers durch die "Daily-Telegraph-Affäre". Das Londoner Blatt veröffentlichte im Oktober 1908 ein Interview, in dem Wilhelm II. über militärstrategische Ratschläge schwadronierte, die er der englischen Königin Viktoria zur Niederwerfung des Burenkriegs erteilt habe. Zugleich rühmte er sich, während des Burenkriegs eine gegen England gerichtete europäische Kontinentalliga verhindert zu haben. Seine leichtfertig unüberlegten Äußerungen waren ein so starker Affront gegen alle Staaten der Tripelentente, dass selbst die Konservativen den Kaiser zu größerer Zurückhaltung aufforderten. Alldeutsche und Antisemiten hingegen bemängelten in diesem Zusammenhang, dass der Kaiser während des Burenkriegs zu englandfreundlich gewesen sei.

Ähnlich negativ für das internationale Ansehen des Kaiserreichs wirkte sich die "Zabern-Affäre" aus. Im Reichsland Elsaß-Lothringen hatte ein Kommandeur sich Polizeigewalt angemaßt und bei einer Protestdemonstration 28 Demonstranten verhaftet. Mit dem Hinweis auf eine Kabinettsordre von 1820 sprach das Kriegsgericht den verantwortlichen Kommandeur jedoch von der Anklage der Freiheitsberaubung frei. Mit diesem Kriegsgerichtsurteil hatten alle Bemühungen um ein besseres Verhältnis der Elsaß-Lothringer zum Deutschen Reich einen herben Rückschlag erlitten. Erstmals machte der Reichstag von seinem Interpellationsrecht Gebrauch und sprach der Regierung seine Mißbilligung aus.

In diesem 1912 gewählten Reichstag stellte die SPD nun auch die stärkste Fraktion. Ermöglicht wurde dieser Erfolg durch Wahlbündnisse mit der Fortschrittspartei. Mit Personen wie August Bebel, Friedrich Ebert, Gustav Noske und Carl Legien waren in der SPD Pragmatiker und Gewerkschafter an die Parteispitze vorgerückt, die ihre Ziele auf parlamentarisch-demokratischem Weg erreichen wollten. Die konservativen Eliten waren durch den Aufstieg der Sozialdemokratie zutiefst beunruhigt und suchten mit einer aggressiveren Politik nach außenpolitischen Erfolgen.

Burkhard Asmuss
15. Oktober 2015

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