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Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles

Die Textsammlung von Kurt Tucholsky mit Montagen von John Heartfield erschien 1929. Vier Jahre vor Adolf Hitlers Ermächtigung veröffentlichte Tucholsky einen »politischen Baedeker« zu Deutschland, ein »Bilderbuch« zur Lage von Staat und Nation. "Deutschland, Deutschland über alles", das mit einem »törichten Vers eines großmäuligen Gedichts« überschriebene Buch, endete nach einer in ihrer Radikalität bis heute einzigartigen Kritik an Deutschland mit dem Bekenntnis: »Ja, wir lieben dieses Land.« Widerlegt wird mit dem Buch auch eine zweite »Dolchstoßlegende« wonach »die Intellektuellen« der Weimarer Republik durch mangelnde Loyalität gegenüber der jungen Demokratie Hitlers Parteigängern den Weg zur Macht geebnet hätten; das Gegenteil ist der Fall: Bereits 1920 hatten Alfred Döblin, Walter Hasenclever, Paul Zech (1881-1946), Tucholsky und andere in einem "Deutschen Reaktions-Almanach" vor nationalistischen Umtrieben gewarnt; der Umschlag ihrer Anthologie zeigte eine auf Beute lauernde Hakenkreuz-Spinne.

Es ging Tucholsky im Jahr der Weltwirtschaftskrise mit seinem Deutschland-Buch um eine möglichst wirkungsvolle Beeinflussung von Wählermassen: gegen deutschen Militarismus, gegen soziales Unrecht und Klassenjustiz, gegen neuen deutschen Chauvinismus sowie gegen unfähige "Realpolitiker" aller Couleur. Tucholskys Engagement in humanistischen, sozialistischen und pazifistischen Organisationen, das ihn vorübergehend sogar seine tiefe Abneigung gegen Gruppen und Vereine Überwinden ließ, genügten dem erfolgreichen, um politische Wirkung bemühten Publizisten nicht länger. Anders als "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte" sollte sein neues "Bilderbuch" nicht amüsieren, sondern jenes Deutschland zur Besinnung rufen, das am Fließband stand, im Kaufhaus arbeitete oder an der Schreibmaschine saß.

Ein Mittel hierzu sah Kurt Tucholsky in literarisch kommentierter Dokumentarfotografie, der sein Interesse bereits seit 1912 galt. Eigene Texte - illustriert durch Fotos und diese ihrerseits illustrierend - waren schon erschienen, als er 1928 der "Arbeiter Illustrierten Zeitung" (AIZ) seine Mitarbeit zusagte. So entstanden rund fünfzig agitatorische, teils couplethafte Gedichte für die AIZ und den Sammelband "Rote Signale" (1931); hieraus ergab sich die Idee zu "Deutschland, Deutschland über alles". Über die Zusammenarbeit mit John Heartfield und ihr gemeinsames Konzept schrieb Tucholsky 1930: "Es kommt darauf an, die Fotografie - und nur diese noch ganz anders zu verwenden: als Unterstreichung des Textes, als witzige Gegenüberstellung, als Ornament, als Bekräftigung - das Bild soll nicht mehr Selbstzweck sein." Der in einer bald schon vergriffenen Startauflage von 20.000 Exemplaren gedruckte Band war das politische Resümee eines sensiblen Individualisten und radikalen Intellektuellen, der sich bewußt an die Seite der Unterprivilegierten, Rechtlosen und Ausgebeuteten gestellt hatte. Als kommunistische Funktionäre an ihm den Bürger und Schöngeist kritisierten, konterte Tucholsky: "Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange."

"Deutschland, Deutschland über alles" ist ein provokantes Album zur Weimarer Republik. Als Motto ist dem Band der Satz aus Hölderins "Hyperion" "So kam ich unter die Deutschen" vorangestellt. Einzigartig in der deutschen Literatur zwischen den Weltkriegen ist an Tucholskys Deutschland-Buch einerseits das Niveau der einzelnen Texte, von denen viele bis heute nichts an politischer Brisanz verloren haben, andererseits die Vielfalt der literarischen Formen, neben zwanzig Gedichten und Chansons ("Aussperrung"; "Start") pointierte Bildunterschriften ("Demokratie") und provokante Fotostories ("Statistik"; "Nie allein"). Charakteristisch sind für Tucholsky (zum Teil umgangssprachliche) Monologe und Gespräche ("Herr Wendriner kauft ein"; Ich bin ein Mörder"), ein Dramolett zur deutschen Justiz ("Wiederaufnahme") sowie Aphorismen, Parodien und Parabeln ("Feuerwehr"); der Band enthält Satire in Vers und Prosa ("Götzen der Maigoto-Neger"), dazu klassische Feuilletons ("Treptow"), kulturkritische Essays (zu Alltagskultur und Architektur), Polemiken, Reportagen, Rezensionen und Theaterberichte ("Der Linksdenker"). "Deutschland, Deutschland über alles" fährt das gesamte Spektrum literarischer Publizistik vor, wie sie sich während der zwanziger Jahre dank Erich Kästner, Walter Mehring (1896-1985), Joseph Roth und Alfred Polgar (1873-1955) als literarische Form etablieren konnte.

Die Mehrzahl der knapp hundert Foto-Textmontagen setzt sich mit Auswüchsen einer Klassengesellschaft auseinander, die in Berlin und anderen Metropolen zu krassen sozialen Gegensätzen geführt hatte. Berühmt geworden ist Tucholskys unsanftes Wiegenlied "Start". Fast ebenso viele Texte befassen sich mit Militarismus und Nationalismus, die Kriegsende und demokratische Umgestaltung nahezu unbeschadet überdauert hatten. Die "Nation der Offiziersburschen" nennt Tucholsky einen kurzen Prosatext zu einem Foto, das militaristisch aus- und abgerichtete Jugendliche zeigt.

Ein dritter Themenkreis befaßte sich mit der gescheiterten Revolution von 1918/19, monarchistischen Umtrieben und folgenschweren Mängeln der ersten deutschen Republik, die sich demokratisch gab, tatsächlich jedoch tief im Kaiserreich wurzelte. In "Mitteldeutscher Aufstand" klagt Tucholsky die Dienstbarkeit uniformierter Proletarier an, die wie zu Kaisers Zeiten gegen ihresgleichen zu Felde ziehen. Vehemente Angriffe richtete der promovierte Jurist auch gegen die inhumane Rechtsprechung deutscher Gerichte. Sein Gedicht "Deutsche Richter von 1940" wirkt heute wie eine literarische Vision von Ungeist und Menschenverachtung nationalsozialistischer Juristen ("Wir sitzen in zwanzig Jahren / mit zerhacktem Angesicht / Würde und Talaren / über euch zu Gericht. / Dann werden wir's euch zeigen / in Sprechstunden und Büros... / ihr habt euch zu ducken, zu schweigen ... ").

Weitere republikfeindliche Relikte aus Kaisers Zeiten sind für Kurt Tucholsky Staatskirche, Bürokratie, Beamtentum sowie Burschenschaften und Vereinswesen, mit denen er sich mehrfach auseinandergesetzt hat; fast zeitlos erscheint seine Darstellung des deutschen Postwesens, "Aus einem unerfindlichen Grund". Eher als unterhaltsame Auflockerung verstand Tucholsky seine Texte zu zeitgenössischem Theater, Literatur, Kabarett, Architektur und Freizeitgestaltung (Week-end). Tucholsky hatte mit "Deutschland, Deutschland über alles" einen seiner größten Bucherfolge, obwohl der Börsenverein mit allen Mitteln einen Boykott des Buches durchzusetzen versucht hatte.

(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)

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