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    Marschstiefel, 1935/1945

Die Marschstiefel prägen das Erscheinungsbild der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie gehören, wie der "Stahlhelm 1935", zu den ikonischen militärischen Objekten. Heutzutage werden sie oft mit Vorstellungen vom gehorsamen Wehrmachtsoldaten verbunden, der beim Salutieren vor Vorgesetzten die Hacken laut knallend zusammenschlägt, oder vom arroganten und schikanierenden Offizier mit blank polierten Reitstiefeln - Klischees, die meist amerikanischen Kriegsfilmen entstammen. Die nationalsozialistische Propaganda verband die Stiefel und das Marschieren hingegen mit der Eroberung neuer Gebiete.

Die im Soldatenjargon "Knobelbecher" genannten Stiefel hatten in der Armee eine lange Tradition: 1935, während der Transformation der republikanischen Reichswehr in die nationalsozialistische Wehrmacht, gehörten sie schon rund 70 Jahre zur Ausstattung. In Friedenszeiten erhielt jeder Wehrmachtssoldat zwei Paar Stiefel pro Jahr. Offiziere trugen Reitstiefel, deren langer und enganliegender Schaft den Trägern ein elegantes Aussehen verlieh. Die vergleichsweise schlichten Stiefel der Mannschaften waren aus geschwärztem Kernleder gefertigt, je nach Größe 35 bis 39 cm hoch und wogen zusammen 1900 Gramm. Um die Haltbarkeit der Sohle zu erhöhen, waren sie mit 30 bis 40 Nägeln beschlagen, die Absätze mit einem Absatzeisen und die Spitzen mit einer Eisenplatte. Wenige Monate nach Kriegsbeginn 1939 wurde aus Sparmaßnahmen der Schaft um ca. 6 cm gekürzt. Aufgrund von Lederknappheit ersetzten seit Sommer 1942 zunehmend knöchelhohe Schnürstiefel die klassischen Marschstiefel, seit Frühjahr 1944 lösten sie diese ganz ab. Einsparungen gab es auch bei den Socken, die die Soldaten in den Stiefeln trugen. Seit Sommer 1944 wurden schlauchartige Socken in Einheitsgröße ausgegeben. Alternativ waren auch Fußlappen in Gebrauch, rechteckige Stoffstücke, die man anstelle der Socken oder über ihnen trug.

Wie jedes andere Uniform- und Ausrüstungsstück waren die Stiefel nicht nur Gegenstand täglichen Gebrauchs, sondern bedurften auch ständiger Pflege. Große Aufmerksamkeit kam ihnen in der Putz- und Flickstunde und beim Stiefelappell zu. Was in Friedenszeiten galt und neben praktischem Nutzen auch zur Disziplinierung dienen konnte, wurde im Krieg beibehalten. In dem 1942 erschienenen "Taschenbuch für den Winterkrieg" heißt es: "Stiefelappelle sind möglichst häufig, soweit es die Gefechtslage gestattet, abzuhalten, um die Durchführung einer sachgemäßen Schuhpflege zu prüfen." Besondere Beachtung fand auch die Fußpflege, benutzt wurden Fußpuder, die desinfizierend und gegen Schweißgeruch wirkten.

So sehr sich die Marschstiefel in vielerlei Hinsicht bewährten, sie waren für europäische Umweltbedingungen gedacht. Für den russischen Winter mit seinen extremen Minustemperaturen, mit denen die deutschen Soldaten seit 1941 Erfahrungen machen mussten, erwiesen sie sich als ungeeignet. "Füße sind besonders empfindlich gegen Frost. Strümpfe häufig wechseln. Einlegesohle aus Stroh, Stoff oder Papier, ferner sorgfältig eingelegtes und gut passend geschnittenes Langstroh sowie gut um den Fuß gewickeltes Zeitungspapier sind erprobte Mittel gegen Erfrierungen der Füße", riet das erwähnte "Taschenbuch". Die dennoch erlittenen Erfrierungen führten dazu, dass unter hohem Zeitdruck Winterstiefel entwickelt wurden. Inspiriert von russischen Modellen bestanden sie überwiegend aus Filz. Für den Einsatz deutscher Truppen in Nordafrika war indes voraussehend spezielles Schuhwerk entwickelt worden. Das Afrikakorps erhielt im Frühjahr 1941 hohe Schnürstiefel, für die khakifarbenes Gewebe Verwendung fand.

Parade und Marsch

Zwei Stichworte sind eng mit den Stiefeln verbunden: Parade und Marsch - und beide erfuhren im Nationalsozialismus spezielle Konnotationen. Paraden nutzte das nationalsozialistische Regime zur Machtdemonstration. Im Gleichschritt und mit Marschmusik stellte die Wehrmacht ihre Disziplin und Stärke öffentlich zur Schau, beispielsweise auf den Nürnberger Parteitagen, im April 1939 zum fünfzigsten Geburtstag Adolf Hitlers oder, erst recht, während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Städten. Diese Veranstaltungen schweißten die Teilnehmer als Gemeinschaft eng zusammen. Auf die Zuschauer wirkten sie, je nach Situation, erhebend oder einschüchternd. Zu diesen Effekten trug das Geräusch bei, das die metallenen Sohlenbeschläge im Marschtritt machten. Ein besonderes Schauspiel bot die tägliche Wachablösung an der Neuen Wache in Berlin (damals die Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges), bei der die Soldaten nicht wie beim Exerzierschritt der Parade das Bein kniehoch anhoben, sondern es, im klassischen Stechschritt, bis auf Hüfthöhe schwangen.

Das Marschieren blieb, der Motorisierung der Wehrmacht zum Trotz, die hauptsächliche Art der Fortbewegung, mit der deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg von einem Ort zum anderen kamen, sei es auf gepflasterten Straßen oder Feldwegen, bei Sonnenschein oder im Schneeregen. Zum Marschieren gehörte das Singen von Liedern, was das Gemeinschaftsgefühl stärkte, für Zeitvertreib sorgte und gegen Ermüdung half. Das Repertoire bestand aus überlieferten und neuen Liedern. Neben romantisierenden und scherzhaften Stücken wie "Warum lieben denn die Mädchen die Soldaten" oder "Gerda - Ursula - Marie!" behandelten manche von ihnen auch Gefahren und Tod, die jedoch in Anbetracht höherer Ziele heldenhaft ertragen wurden. So lauten die Verse des Marschliedes "Graue Kolonnen": "Kamerad Tod, du winkst uns schon zu, / aber wir wollen den Sieg und nicht die Ruh', / denn wir marschieren in Feindesland." Die Texte vermochten, zumal in Verbindung mit Melodie und Rhythmus, auch zu beeinflussen. Zur neuen politischen Bekenntnislyrik zählt beispielsweise das zu Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 geschriebene "Rußlandlied" mit dem Refrain "Der Führer ruft - drum, Schatz, ade! / Zum Siege stürmt die Ost-Armee!" Das aus der gleichen Zeit stammende Lied "Vorwärts nach Osten" propagiert euphorisch den Eroberungszug und das Führerprinzip: "Von Finnland bis zum Schwarzen Meer, / Vorwärts, vorwärts! / Vorwärts nach Osten, du stürmend Heer! / Freiheit ist das Ziel, / Sieg das Panier! / Führer befiehl! / Wir folgen Dir." Ob solche Verse allerdings tatsächlich auf dem Marsch im Kriegsgebiet gesungen wurden oder ob sie vor allem auf Liedpostkarten gedruckt in der Heimat Verbreitung fanden, muss dahingestellt bleiben. 

Die Propaganda griff das Motiv marschierender Soldaten auf und führte es dem Publikum immer wieder vor Augen. Das Heer bewegte sich, so suggerierten es unzählige Bilder in Wochenschauen, Zeitschriften und anderen Medien, unaufhaltsam immer weiter vorwärts. Getragen war das von der Idee der Eroberung des Lebensraumes im Osten, als die der Russlandfeldzug geplant worden war. Diese Darstellungen hörten auf, als aus dem Bewegungsdrang zunächst Stillstand und später Rückzug wurde.

Das Thema Marschieren fand 1955 einen literarischen Nachhall in dem Roman von Josef Martin Bauer "So weit die Füße tragen". Es ist die abenteuerliche Geschichte eines zu Zwangsarbeit verurteilten deutschen Kriegsgefangenen, der aus einem sibirischen Bleibergwerk flieht, um über den Iran, die Türkei und Italien nach Hause zurückzukehren. Über die Bewältigung des viele hundert Kilometer langen Weges bemerkt der Erzähler aphoristisch: "Wenn der Schuh sich nicht an den Fuß passen will, muß der Fuß sich an den Schuh passen."

Thomas Weißbrich
20. November 2020

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