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Philosophie in der Weimarer Republik

Die deutsche Philosophie der zwanziger Jahre kannte keine dominante Schule mehr. Gemeinsam waren den philosophischen Bewegungen aber infolge der Erschütterungen des Ersten Weltkriegs die Abkehr von "Großsystemen" wie dem Idealismus oder dem am Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Denken der exakten Naturwissenschaften und die Hinwendung zum Menschen in seinem täglichen Leben.

Als neue "Wissenschaft von der Gesellschaft" etablierte sich in den zwanziger Jahren die Soziologie an den Universitäten. Von Max Weber und Georg Simmel bereits vor dem Ersten Weltkrieg theoretisch begründet, avancierte sie zur politischen Leitwissenschaft der Weimarer Republik. Ihre Vertreter gehörten in der deutschen Hochschullandschaft zu den wenigen Anhängern des demokratischen Systems. Nach dem Eintritt von Max Horkheimer 1930 entwickelte sich das 1923 vom jüdischen Unternehmersohn Felix Weil gegründete Institut für Sozialforschung in Frankfurt zur bekanntesten Plattform einer demokratisch marxistischen, von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) jedoch unabhängigen Gesellschaftstheorie. Mit zum Institutskreis gehörten später auch Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Walter Benjamin. Ein weiterer Exponent der marxistisch inspirierten Philosophie war der Pazifist Ernst Bloch. Sein expressionistisches Werk "Geist der Utopie" sollte die Frage des einzelnen Individuums nach sich selbst mit der marxistischen Wir-Hoffnung der klassenlosen Gesellschaft beantworten.

Neben der linken entwickelte sich in der Weimarer Republik auch eine rechtsintellektuelle Gesellschafts- und Kulturkritik. Im letzten Kriegsjahr 1918 erschien der erste Band von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes". Kein anderes Buch wühlte durch seine pessimistische Geschichtsbetrachtung rechte wie linke Kreise derart auf und entfaltete eine solche Wirkung, wie dieses Werk. Seine Idee einer absterbenden abendländischen Kultur sowie die eines preußisch-nationalen und sozialistischen Führerstaates veranlaßte neben einflußreichen Wirtschaftsführern auch Rechtskonservative und geistige Führer des Nationalsozialismus bereits in den zwanziger Jahren, den Kontakt zu Spengler zu suchen. Zusammen mit anderen Rechtsintellektuellen wie Ernst Jünger oder Arthur Moeller van den Bruck gehörte Spengler zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus, auch wenn er sich nach 1933 nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ.

Neben der Kulturkritik entstand in der Weimarer Republik die neue Richtung der Kulturphilosophie. Als typischer Repräsentant des bildungsbürgerlichen Deutschland öffnete Ernst Cassirer die akademische Philosophie hin zur Kulturwissenschaft. Sprache, Mythos, Religion, Musik, Kunst, Wissenschaft und Technik wurden von ihm auf ihre symbolische Struktur hin analysiert. Nach 1927 wandte er sich gegen die zunehmende "Mythisierung" des Staates und ein Verdrängen der Rationalität aus dem politischen Streit. So trat er 1928 auf der Verfassungsfeier des Hamburger Senats als Festredner für eine demokratische Republik im Geist der deutschen Aufklärung ein. Rechte Kreise lehnten diesen Universalgelehrten ab, der 1929 als erster Jude an der Universität Hamburg Rektor einer deutschen Universität wurde.

Die Konfrontation mit der Auflösung von traditionellen Wertegefügen am Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg rief in vielen Philosophen die Sehnsucht nach einem religiösen Halt herauf. So konvertierten die Phänomenologen Max Scheler (1874-1928) oder Edith Stein (1891-1942) vom Judentum zum Katholizismus. Durch Schelers Ausstrahlung wurde die Phänomenologie in ihrer "katholischen Periode" zu einer breiten, geistigen Bewegung. Stein dagegen wandte sich der mittelalterlichen Mystik zu und trat in den Orden der Karmeliter ein. Dennoch wurde sie im August 1942 als Reaktion auf den Protest der katholischen Bischöfe der Niederlande gegen die Judendeportationen von den Nationalsozialisten aus ihrem Karmel in Holland nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Auch Franz Rosenzweig erwog anfangs die Konversion, bevor er mit Martin Buber zum bekanntesten Exponenten der jüdischen Philosophie wurde. Gemeinsam war beiden der Abschied von einer idealistischen Metaphysik und die Hinwendung zum konkreten menschlichen Leben in seinem Bezug zur Welt und zu Gott.

Beide wurden dadurch zu den Anregern der neuen philosophischen Bewegung der Existenzphilosophie. Diese war in der Weimarer Republik ein Sammelbecken für Positionen, die sich von der traditionellen Philosophie abwandten und sich vorrangig mit dem Problem der Existenz des einzelnen Menschen beschäftigten. Die Existenzphilosophie fand in Karl Jaspers und Martin Heidegger unterschiedliche Ausprägungen. Jaspers war an der vielen Kriegsteilnehmern bekannten Selbstüberwindung der Angst in den Grenzsituationen von Tod, Kampf und Schuld interessiert und ein entschiedener Befürworter der Republik, während Heidegger die Analyse des endlichen, menschlichen Daseins mit einer radikalen Kritik an der in den zwanziger Jahren entstehenden Massenkultur verband. In seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" von 1927 entwarf er das Bild von der "Diktatur des Man". Trotz aller Differenzen waren beide Philosophen in dieser Zeit befreundet.

Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 brach viele der Entwicklungen der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre in der deutschen Philosophie ab. Horkheimer, Adorno, Benjamin, Marcuse, Cassirer und Buber verließen Deutschland. Erst nach 1945 konnte die deutsche Philosophie wieder langsam an diese ins Exil getriebenen Denker anknüpfen.

Wolfgang Scheuermann-Peilicke
22. Januar 2002

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