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    V1-Flugbombe vor dem Start, 1944

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Die "Wunderwaffen" V1 und V2

Bereits 1943 hatte die NS-Propaganda als Erwiderung der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte die Bombardierung Englands mit "Vergeltungswaffen" angekündigt, um die Moral der Zivilbevölkerung und den Kampfgeist der Soldaten aufrechtzuerhalten. Mit ständigen Appellen von der Wirksamkeit der "Wunderwaffen" verbreitete das NS-Regime den Glauben, die Wehrmacht habe mit neuen, überlegenen Waffensystemen ein technologisches Mittel in der Hand, um die entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg doch noch herbeiführen zu können. Allerdings schlug die nach dem Einsatz der "Vergeltungswaffe" V1 kurzzeitig entstandene euphorische Stimmung der deutschen Bevölkerung im Sommer 1944 bald in Skepsis um, als die V-Raketen nicht die erwarteten Erfolge erzielen konnten.

Erste Tests der Flugbombe V1 fanden bereits im Dezember 1942 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Insel Usedom statt. Der von den Ingenieuren Robert Lusser (1899-1969) und Fritz Gosslau (1898-1965) entwickelte Marschflugkörper war 7,73 Meter lang und 2.200 Kilogramm schwer, wobei fast die Hälfte des Gewichts aus Sprengstoff bestand. Mit einer Geschwindigkeit von annähernd 600 Km/h erreichte die V1 eine Weite von 370 Kilometern und wurde nach der alliierten Invasion in der Normandie erstmals am 13. Juni 1944 auf die britische Hauptstadt London abgefeuert. Zunächst startete die V1 aus eigens dafür von der "Organisation Todt" in Nordfrankreich errichteten Abschussbasen, später wurde sie auch von Flugzeugen aus gestartet. Allerdings blieben die militärischen Erfolge der Flugbombe gering: Nur etwa 25 Prozent aller abgefeuerten Flugkörper erreichten ihr Ziel, die anderen versagten wegen technischer Defekte oder wurden abgeschossen. Bei Angriffen auf die für alliierte Nachschubwege wichtige Stadt Antwerpen konnte die alliierte Flak auf Anhieb über 60 Prozent aller V1 abschießen.

Seit Ende der 1930er Jahre entwickelten deutsche Ingenieure unter der technischen Leitung von Wernher von Braun in Peenemünde die Flüssigkeitsrakete "Aggregat 4" (A4). Am 3. Oktober 1942 gelang der erste erfolgreiche Start einer A4-Rakete, die bei einer Brenndauer von 58 Sekunden 190 Kilometer weit flog. Als Braun im Juli 1943 im ostpreußischen Hauptquartier "Wolfsschanze" bei Rasteburg Hitler vom Entwicklungstand der A4-Raketen berichtete, befürwortete dieser vor dem Hintergrund der immer häufiger werdenden militärischen Misserfolge die Forschungen der Ingenieure. Braun projektierte bereits die nicht mehr gebauten Flugraketen A9 und A10 mit interkontinentaler Reichweite, die mit einer Geschwindigkeit von mehr als 4.000 Stundenkilometern den Atlantik überqueren und die Vereinigten Staaten von Amerika angreifen sollten. Die A4 hingegen wurde mit 1.000 Kilogramm schweren Sprengköpfen bestückt und in "Vergeltungswaffe" 2 (V2) umbenannt. Sie hatte bei einer Geschwindigkeit von über 5.000 Stundenkilometern und 90 Kilometern Flughöhe eine Reichweite von 400 Kilometern. Die gesamte Flugzeit nach London dauerte nur 320 Sekunden. Nachdem am 7. September 1944 die erste V2 auf die britische Hauptstadt abgefeuert wurde, starteten bis Ende März 1945 über 3.000 Raketen mit Zielen in England, Belgien und Frankreich. Lautlos und ohne Vorwarnung schlug die V2 ein, da sie wegen ihrer hohen Geschwindigkeit nicht auf den Radarbildschirmen zu orten war. Insgesamt starben bei den Angriffen schätzungsweise 8.000 bis 12.000 Menschen, hauptsächlich in London und Antwerpen.

Den Zivilopfern stehen über 12.000 beim Bau der V2 unter miserablen Arbeitsbedingungen zu Tode gekommene Häftlinge gegenüber. Nach einem schweren Luftangriff der Royal Air Force im August 1943 wurde die Raketenproduktion von Peenemünde in ein Bergwergstollensystem bei Nordhausen im Harz verlegt, das bis dahin als Treibstofflager gedient hatte. Ende August 1943 trafen die ersten Häftlinge aus dem Konzentrationslager (KZ) Buchenwald im neuen KZ Dora-Mittelbau ein, das in den folgenden anderthalb Jahren durchschnittlich mit etwa 15.000 Häftlingen belegt war. Nach den kräftezehrenden Ausbauarbeiten der unterirdischen Fabrikanlage lief im Januar 1944 die Produktion der V2 an. Bis März 1945 wurden fast 6.000 Raketenwaffen unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen hergestellt: Die Häftlinge schliefen zunächst in den kalten Stollen auf Holzpritschen, als Latrinen dienten halbierte Ölfässer. Es gab weder ausreichend warme Kleidung für die kühlen Stollensysteme noch genügend zu Essen. Willkürlich wurden Häftlinge bestraft, geschlagen oder hingerichtet, wenn sich eine V2-Rakete nach dem Start als Blindgänger erwies. Trotz zwischenzeitlicher Verbesserung der Lebensbedingungen durch den Umzug in ein Barackenlager im Sommer 1944 überlebte etwa ein Drittel aller Häftlinge die Strapazen bis zur Räumung von Dora-Mittelbau im April 1945 nicht.

Johannes Leicht
9. November 2023

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