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    Plakat des Reichsministeriums für Volksbildung und Propaganda für Soldaten der Wehrmacht mit Anweisungen zum Umgang mit gegnerischer Kriegspropaganda, 1939/1945

> Der Zweite Weltkrieg > Kriegsverlauf

Kriegsflugblätter der Anti-Hitler-Koalition

Unter "Psychologischer Kriegführung" (PKf), auch Kriegspropaganda genannt, sind alle strategischen und taktischen Maßnahmen öffentlicher Institutionen kriegführender Staaten zur Beeinflussung der gegnerischen Streitkräfte und Zivilbevölkerung mit nicht gewaltsamen Mitteln zu verstehen. In Bezug auf die Erkennbarkeit der Urheber, unterscheidet man grob zwischen "weißer", "grauer" oder "schwarzer" Propaganda. "Weiß" meint, dass sich der Urheber klar zu erkennen gibt, "schwarze" Propaganda täuscht hingegen das Gegenteil vor oder tarnt sich als harmloses Produkt. Dazwischen oszilliert die "graue" Propaganda durch intendierte Verwechselbarkeit, die erst durch genaues Studium Hersteller und Absicht preisgibt. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie von allen Seiten vor allem durch Flugblätter und -schriften sowie über den Rundfunk betrieben. Flugblätter waren in großen Massen einsetzbar und konnten auf vielfache Weise zu ihrem potenziellen Leserkreis gebracht werden: per Abwurf aus Flugzeugen im Großflächeneinsatz, mit speziellen Granaten und Raketen an der Front oder über manuelle Streuung im persönlichen Bereich. Je nach Möglichkeit und Zielgruppe nutzten die kriegführenden Mächte im Zweiten Weltkrieg diese Verbreitungswege.

In Großbritannien und den USA herrschte durchaus Skepsis gegenüber der staatlichen Propaganda - wegen des massiven Einsatzes im Ersten Weltkrieg. Beide Staaten betrieben seit 1914 beziehungsweise 1917 eine intensive Kriegspropaganda, der man später zwar durchaus Erfolg bescheinigte, deren Mittel, wie Gräuelpropaganda, Dämonisierung des Gegners, jedoch auf Kritik stießen. Zudem war man sich der Gefahr bewusst, dass ein übertriebener Einsatz wiederum die Nachkriegsgesellschaft destabilisieren könnte (siehe Dolchstoßlegende).
Dagegen beruhte die staatliche Propaganda in der Sowjetunion auf den Erfahrungen, Mechanismen und Strukturen der gesamten Lebensdauer des Landes. Seit der Oktoberrevolution war sie zu einem der wichtigsten Instrumente bei der Verbreitung der Ideen der Kommunistische Partei der Sowjetunion gewesen. So beruhte die Flugblattpropaganda der Sowjetunion gegen die Wehrmacht im Sommer 1941 auf einer gut eingespielten und zentral gesteuerten Organisation.

Britische und US-amerikanische Flugblattpropaganda

In Großbritannien war 1939 ein Schlüsseljahr für die Organisation der psychologischen Kriegführung. Erste institutionelle Grundlagen wurden schon 1935 geschaffen. Doch erst nach dem Scheitern der Appeasement-Politik etablierten sich kurz vor Kriegsbeginn parallel das Department Electra House, benannt nach dessen Hauptsitz, das Ministry of Information und die zum Geheimdienst SIS gehörende Section D als verantwortlich für die Lenkung der PKf. Diese Struktur nebeneinander agierender und sich teils überlappender Ansprüche und Kompetenzen war ineffizient und führte im Juli 1940 zur Bündelung der Propaganda, zunächst unter dem Dach des Geheimdienstes SOE (Special Operations Executive). Da auch dieses Modell sich nicht bewährte, wurde im August 1941 das Political Warfare Executive (PWE) geschaffen, das Weisungen vom Außenministerium und dem Generalstab erhielt.

Die britischen Propagandaaktivitäten gegen das Deutsche Reich begannen in der Nacht zum 4. September 1939. Flugzeuge der Royal Air Force (RAF) warfen über Hamburg, Bremen und dem Ruhrgebiet fast 5,5 Millionen Flugblätter ab. Inhaltlich mussten sich die Briten lange Zeit mit dem Dilemma deutscher Dominanz auf den Kriegsschauplätzen auseinandersetzen und dementsprechend die Kriegspropaganda ausrichten: Betont wurde die deutsche Aggression und Kriegstreiberei, die Durchhaltefähigkeit Großbritanniens oder die Verlogenheit der NS-Führung gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung. Dabei schrieb man, um glaubwürdig zu bleiben, möglichst offen auch über die eigenen militärischen Verluste.  Wichtig war, dass man die eigenen Kriegsziele, allen voran die Vernichtung der NS-Herrschaft, klar kommunizierte. Die Form war dabei höchst variantenreich und reichte vom einseitig bedruckten Textblatt zur aufwändig mit Fotomontagen und Karikaturen versehenen Flugblattzeitung. Ihr Hauptadressat war bis 1944 die deutsche Zivilbevölkerung.
Ab Sommer 1940 verschob sich indes das Ziel der britischen Kriegspropaganda in Richtung Frankreich. Am Ende des Krieges waren fast die Hälfte der etwa 1,5 Milliarden britischen Flugblätter für die französische Bevölkerung abgeworfen worden.

Die Organisation der US-amerikanischen Kriegspropaganda formierte sich ab 1941. Zunächst vom Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) getragen, wurde 1942 mit dem Office of War Information (OWI) eine zentrale Behörde für Kriegspropaganda geschaffen - und in der Öffentlichkeit sogleich heftig kritisiert: Misstrauen herrschte vor allem gegenüber der Zentralisierung von Information, einer befürchteten Analogie zum deutschen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda oder einer Instrumentalisierung durch die regierenden Demokraten. Im November 1942 wurden nach der Landung der US-Truppen in Nordafrika die ersten vom OWI und der von General Eisenhower geschaffenen Militäreinheit Psychological Warfare Divison (PWD) erarbeiteten Flugblätter abgeworfen. Erst ein Dreivierteljahr später erfolgte der erste Abwurf Ende Juli 1943 über deutschem Gebiet. Gestalterisch legte man - viele Mitarbeiter kamen aus der Werbebranche - vor allem Wert auf Wiedererkennung der Flugblätter als amerikanisch. Inhaltlich wurden dabei vor allem die Dimensionen der eigenen militärisch-wirtschaftlichen Überlegenheit und die Unaufhaltsamkeit der Offensivbewegungen der US-Armeen hervorgehoben. Der Grundtenor war: Die Deutschen, Soldaten wie Zivilisten, sollten schnellstmöglich kapitulieren, denn das Ende der Nazi-Herrschaft war sowieso unausweichlich.

Auf dieser Basis arbeitete die PKf der Vereinigten Staaten bis zur gemeinsamen Invasion mit den Briten in der Normandie am 6. Juni 1944.  Zur Zusammenführung der britischen und US-amerikanischen Kriegspropaganda wurde im März 1944 die Psychological Warfare Division beim Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces (PWD/S.H.A.E.F.) geschaffen. Zwar produzierten die zivilen Stellen in den USA und Großbritannien noch bis Oktober parallel weiterhin eigene Flugblätter, doch wurde die Masse nun vom Militär konzipiert und verbreitet. Die Produktionszahlen selbst zeigen die riesigen Ressourcen der Vereinigten Staaten: Trotz des späten Kriegseintritts verließen fast 6,5 Milliarden Flugblätter der US-Regierung und der Streitkräfte die Druckereien.

Sowjetische Flugblattpropaganda

Einen Tag nach dem Beginn des Unternehmens "Barbarossa" am 22. Juni 1941 begannen auch die Propagandaeinheiten der Roten Armee mit der aktiven Kriegspropaganda gegen die deutsche Wehrmacht: Über den vorrückenden Heeresgruppen wurden hunderttausende Flugblätter mit der Rede des Außenministers Molotow vom Vortag abgeworfen.
Die generelle Ausrichtung lag bei der Politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Streitkräfte, genauer bei der 7. Verwaltung, die aber inhaltlich dem "Büro für militärpolitische Propaganda" (ab 1942 "Rat für militärpolitische Propaganda") unterstand. Hier entstanden die Flugblätter der so genannten Zentralserie, die sich mit den ideologischen Grundlagen des Krieges gegen die "Faschistischen Okkupanten" befasste. Anhand strikter Durchnummerierung lassen sich über 3.300 unterschiedliche Flugblattausgaben allein dieser Stelle zuordnen. Hinzu kamen die Politverwaltungen der jeweiligen Fronten, ArmeenHier und Divisionen, die die PKf in den eigenen Abschnitten regeln und die in ihrer Nähe befindlichen deutsche Verbände gezielt ansprechen konnten. Die damit sehr hohe Anzahl an Propagandaeinheiten produzierten einen hohen und variantenreichen Ausstoß: Insgesamt entstanden zwischen 1941 und 1945 etwa 25.000 bis 30.000 Serien mit etwa drei Milliarden Flugblätter.
Weil die Bekämpfung des Feindes auf dem eigenen Territorium absoluten Vorrang hatte und die Sowjetunion über keine strategische Luftflotte verfügte, war die Wehrmacht Hauptadressat der PKf. Um ihre Kampfmoral zu erschüttern, versuchte man höchst unterschiedliche, aber fast immer politische Ansätze: Von Appellen an das Gerechtigkeitsempfinden, da Deutschland vertragsbrüchig den Krieg eröffnet hatte, über das Betonen der Klassen(kampf)frage mit Blick auf die sozialistisch und kommunistisch gesinnten Deutschen bis zum Bemühen historischer Parallelen zu Napoleon, wurde der verbrecherische Charakter des Feldzuges immer wieder angeklagt. Im Laufe des Krieges und vor allem mit der Wende nach den Schlachten von Stalingrad und Kursk zeigte man die eigene militärische Stärke und die NS-Führungsriege als Massenmörder an den Wehrmachtssoldaten. Eine der wichtigsten Grundlinien war die strikte Trennung zwischen Nazis und deutschem Volk: Letztere wurden immer wieder als Opfer der ersteren dargestellt, die sich von den Verführern lossagen müssen.
Ähnlich der westalliierten, arbeitete auch die sowjetische Kriegspropaganda mit höchst variantenreichen Formaten und zum Teil künstlerisch aufwendig produzierten Einzelblättern und Flugschriften bis zu Zeitungsserien mit zahlreichen Ausgaben.

Wirkung der Kriegsflugblätter der Anti-Hitler-Koalition

Die genaue Wirksamkeit der Flugblattpropaganda lässt sich nicht beurteilen. Den Verlauf des Krieges haben sie wohl nicht wesentlich beeinflusst, doch waren sie vermutlich auch nicht einfach Europas Toilettenpapier für fünf Jahre, wie es der Oberbefehlshaber der britischen Bomberflotte Harris ausdrückte. So lange die Wehrmacht unbesiegbar schien, verhallte die psychologische Kriegführung ihrer Gegner weitgehend wirkungslos oder verstärkte eher noch den Kampfwillen und die Regimetreue.
Dies änderte sich spätestens 1942/43: Betrachtet man die Maßnahmen der NSDAP und der deutschen Behörden gegen alliierte Flugblätter, die vor allem in Strafen gegen das Aufheben und Weitergeben oder in "Aufklärung" von Wehrmachtssoldaten über die Feindpropaganda mündeten, zeigt sich zumindest eine zunehmende Nervosität in Bezug auf die erhoffte Resistenz von Zivilbevölkerung und Soldaten.
Die in vielen Flugblättern formulierten Aufforderungen, das NS-Regime zu stürzen oder Rüstungsbetriebe zu sabotieren, waren für die Einzelnen entweder ohnehin nicht durchführbar oder mit sehr hohen Risiken verbunden. Demgegenüber aber waren vor allem die britischen und amerikanischen Flugblätter formativer Teil einer Gegenöffentlichkeit des "Dritten Reiches": Sie lieferten alternative Informationen zu den Kriegsereignissen und höhlten so die Glaubwürdigkeit des NS-Regimes aus. Umfragen der PWD/S.H.A.E.F. nach dem Krieg ergaben, dass in verschiedenen Städten Deutschlands etwa ein Drittel der Einwohner die Flugblätter gelesen hätten.

So unterschiedlich die Ausrichtungen, Ansprachen und Adressaten auch waren - ein Element wurde von allen Mächten in den für Soldaten bestimmten Flugblättern verwendet: der Passierschein zum Überlaufen. Letztlich war das finale Ziel jeglicher PKf im Bereich der Fronten die Aushöhlung des gegnerischen Kampfwillens und die Erzeugung von Todesfurcht. Beides sollte zu der Erkenntnis führen, es sei besser, den Krieg zu beenden, als weiterzukämpfen. Daher wurde auf sehr vielen Flugblättern ein Passierschein zum Überlaufen aufgedruckt. Ursprüngliche eine deutsche "Erfindung", erweckten besonders die US-amerikanischen "Safe Conducts" durch ihre Gestaltung den Eindruck eines amtlichen Dokuments, wie Aussagen deutscher Soldaten, die sich damit in Kriegsgefangenschaft begaben, bestätigten. An der Westfront befragt, zeigte sich, dass mitunter drei Viertel der gefangenen oder übergelaufenen deutschen Soldaten Flugblätter mit Passierschein bei sich trugen.

Thomas Jander
24. März 2021

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