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    Das größere Opfer, 1943

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Adolf Reich: Das größere Opfer

München, Anfang 1943: Es ist die Zeit, in der die Nachrichten von der Stalingrad-Katastrophe kommen. Eine kleine Gruppe Bürger steht bei zwei "Pimpfen" der Hitler-Jugend, die für das Winterhilfswerk (WHW) sammeln. Während im Hintergrund eine junge Witwe ihren Kinderwagen schiebt, schauen sich zwei Frauen nach einem beinamputierten Soldaten um. Das Gemälde von Adolf Reich (1887-1963) benutzt den Ausschnitt eines Schnappschusses. Es ist als Propagandabild gerade deshalb wirksam, weil es Alltagswirklichkeit spiegelt. 

Ursprünglich war für das Gemälde ein Sockel vorgesehen, in den folgendes Zitat von Adolf Hitler eingraviert werden sollte: "Wenn wer im Zweifel ist, ob er noch einmal geben soll, möge er sich umschauen. Er wird jemanden sehen, der ein viel größeres Opfer gebracht hat." Obwohl dem Gemälde defaitistische Tendenzen vorgeworfen wurden, stellte man es 1943 im "Haus der Deutschen Kunst" in München aus. Glaubt man dem Maler, dann zollte Hitler ihm für sein Bild großen Beifall. Das Gemälde appellierte an den von der NS-Ideologie beschworenen Geist einer solidarischen Volksgemeinschaft und deren Opferbereitschaft.

Es handelt es sich um eine gemalte Durchhalteparole und Aufforderung. Ob die auffällig gut gekleideten Bürger spendenwillig von einer Fortführung des Krieges überzeugt sind, kann bezweifelt werden. Das Gesicht der älteren Frau mit dem dunklen Hut wirkt eher erschöpft und lethargisch als siegesgewiss, der Blick der jungen Frau scheint sorgenvoll und ihre Sorgen gelten nicht dem Kriegsinvaliden. Dieser ist die größte Figur in dem Gemälde und geht zielstrebig voran. Er trägt nach wie vor seine Uniform, obwohl er militärisch nicht mehr gebraucht wird, sein Haar ist kurz, der Schuh ist geputzt - er hadert nicht mit seinem Schicksal. An ihm soll sich ein Beispiel genommen werden. Der Soldat hat seine körperliche Unversehrtheit geopfert, ein weitaus größeres Opfer als die Groschen, die die Jungs in ihren Dosen sammeln. Und größere Opfer als Kleingeld werden auch von der propagierten Volksgemeinschaft erwartet: Von der jungen Witwe und nicht zuletzt auch von dem Kind, wenn es dazu in der Lage sein wird.

Das Siegestor, vor dem sich diese Szene abspielt, erbaut 1843 bis 1850 im Auftrag von Ludwig I. als Triumphtor und dem bayerischen Heer gewidmet, war als Wahrzeichen des nationalsozialistischen Münchens Teil zahlreicher Inszenierungen und Aufmärsche, so beispielsweise im November 1935, als die Särge für die Toten des Hitlerputsches zum Königsplatz gebracht wurden.

ia, Oliver Schweinoch, Arnulf Scriba
14. Februar 2017

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